Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
angezettelt. Es hatte nichts genützt. Er würde ihr etwas vormachen, wenn er behauptete, er könne nicht verstehen, warum man im Alkohol Vergessen suchte. In seinem Leben hatte es zwei Phasen gegeben, in denen er sich auf diese Weise getröstet hatte. Beim ersten Mal, als er in den letzten Monaten in London, vor seiner Versetzung nach Eastvale, das Gefühl bekam, er sei bald völlig ausgebrannt, und das zweite Mal vor etwas mehr als einem Jahr, als Sandra ihn verlassen hatte.
Die Leute behaupteten zwar, es würde nicht funktionieren, tat es aber doch. Kurzfristig, um vorübergehend zu vergessen, gab es nichts Besseres als die Flasche. Außer vielleicht Heroin, aber das hatte Banks nie probiert. Vielleicht hatte Janet Taylor also Recht, und es war das Beste für sie, sich am heutigen Abend zu besaufen. Sie litt, und manchmal musste man einfach still vor sich hin leiden. Saufen half, den Schmerz so lange zu betäuben, bis man umfiel. Morgen würde sie einen fürchterlichen Kater haben, aber bis dahin war ja noch Zeit.
»Sie haben Recht. Ich find alleine raus.« Spontan beugte sich Banks vor und küsste Janet zum Abschied auf den Scheitel. Ihr Haar roch nach verbranntem Plastik und Gummi.
Am Abend saß Jenny Füller zu Hause in ihrem Arbeitszimmer. Alle den Fall betreffenden Unterlagen und Notizen waren in ihrem Computer, da man ihr in Millgarth kein Büro zur Verfügung gestellt hatte. Das Fenster ging auf The Green hinaus, einen schmalen Grünstreifen zwischen ihrer Straße und der East-Side-Siedlung. Durch die Lücken zwischen den dunklen Bäumen konnte sie die Lichter der Häuser erkennen.
Die enge Zusammenarbeit mit Banks hatte Jenny so einiges in Erinnerung gerufen. Sie hatte einmal versucht, ihn zu verführen, entsann sie sich beschämt, und er hatte ihr mit der höflichen Erklärung widerstanden, er sei glücklich verheiratet. Aber er fühlte sich von ihr angezogen, das wusste sie genau. Glücklich verheiratet war er auch nicht mehr, hatte aber eine »kleine Freundin«, wie Jenny Annie Cabbot betitelt hatte, ohne sie überhaupt zu kennen. Zu dieser Freundin war es gekommen, weil Jenny lange im Ausland und nicht in der Nähe gewesen war, als Banks und Sandra sich trennten. Wenn sie da gewesen wäre ... hm, vielleicht wäre alles anders gelaufen. Stattdessen war sie eine katastrophale Beziehung nach der anderen eingegangen.
Als sie letztendlich kleinlaut aus Kalifornien zurückgekehrt war, hatte sie sich eingestehen müssen, dass Banks einer der Gründe für ihre lange Abwesenheit gewesen war. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, denn die ungezwungene Nähe quälte sie furchtbar, auch wenn sie tat, als sehe sie alles ganz locker und abgeklärt. Und jetzt arbeiteten sie eng zusammen.
Mit einem Seufzer machte sich Jenny an die Arbeit.
Ihr Hauptproblem war, dass bislang so gut wie keine Informationen von der Forensik und über den Tatort vorlagen. Ohne diese Informationen war es so gut wie unmöglich, eine anständige Tatortanalyse zu erstellen, eine erste Einschätzung, die bei der Ermittlung als Richtungsvorgabe dienen und der Polizei Anhaltspunkte geben konnte, wo genauer nachzuforschen war, von einem komplexen Täterprofil ganz zu schweigen. Sie hatte sich bisher fast ausschließlich auf Viktimologie beschränken müssen. Diese Umstände hatten ihren Kritikern in der Sonderkommission - und die waren Legion - natürlich jede Menge Munition gegeben.
England befand sich noch im Mittelalter, was den Einsatz von beratenden Kriminalpsychologen und Profilern anging, besonders im Vergleich zu den USA. Ein Grund dafür war, dass es sich beim FBI um eine nationale Einrichtung handelte, der Finanzmittel zur Entwicklung von nationalen Programmen zur Verfügung standen. In Großbritannien hingegen gab es mehr als fünfzig eigenständige Polizeiverbände, die völlig autonom arbeiteten. Außerdem waren die Profiler in den USA oft selbst Bullen und wurden schnell akzeptiert. In England waren Profiler meistens Psychologen oder Psychiater, und denen misstrauten Polizei und Gerichte generell. Beratende Psychologen konnten schon von Glück sagen, wenn sie in einem englischen Gericht in den Zeugenstand gerufen wurden. Als Sachverständige gehört zu werden, wie in den USA üblich, war ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wenn es Profiler in den Zeugenstand schafften, trauten Richter und Geschworene ihren Aussagen nicht, und postwendend karrte die Verteidigung einen anderen Psychologen mit
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