Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
Ehrgeizes hatte niemanden mehr überrascht als sie selbst. Dazu gehörte, sich mit der Vergewaltigung und ihren Folgen auseinander zu setzen - eine komplizierte, traumatische Erfahrung, die ein Außenstehender nicht nachvollziehen konnte -, aber sie hatte es geschafft. Und jetzt war sie ein ausgewachsener Inspector und untersuchte für Detective Superintendent Chambers, der offensichtlich einen Riesenbammel vor dem Auftrag hatte, einen polizeipolitisch brisanten Fall.
Es klopfte, und eine junge Frau trat ein. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das einen ziemlich leblosen Eindruck machte. »Man hat mir gesagt, Sie wären hier«, sagte sie.
Annie stellte sich vor. »Setzen Sie sich, Janet.«
Janet nahm Platz und versuchte, es sich auf dem harten Stuhl bequem zu machen. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen, was Annie nicht im Geringsten wunderte. Janets Gesicht war blass, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Abgesehen von den Spuren des abgrundtiefen Grauens und der Schlaflosigkeit, war Janet Taylor möglicherweise eine hübsche Frau. Auf jeden Fall hatte sie wunderschöne Augen mit sandfarbenen Pupillen und hohe Wangenknochen, der Grundstein so mancher Modelkarriere. Sie wirkte sehr ernst, niedergedrückt von der Last des Lebens, aber das konnte auch die Folge der jüngsten Ereignisse sein.
»Wie geht's ihm?«, fragte Janet.
»Wem?«
»Sie wissen schon, Payne.«
»Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.«
»Wird er überleben?«
»Das weiß man noch nicht, Janet.«
»Okay. Ich meine, ist nur weil... hm, es macht wohl einen Unterschied. Für meinen Fall, meine ich.«
»Wenn er stirbt? Ja, macht es. Aber darüber wollen wir uns zunächst mal keine Gedanken machen. Ich möchte, dass Sie mir erzählen, was in Paynes Keller passiert ist. Anschließend werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Dann möchte ich Sie bitten, Ihre Aussage schriftlich niederzulegen. Das hier ist keine Vernehmung, Janet. Sie haben in dem Keller bestimmt die Hölle durchgemacht, keiner will Sie wie eine Straftäterin behandeln. Aber es gibt Richtlinien für solche Fälle, an die wir uns halten müssen, und je eher wir damit anfangen, desto besser.« Annie sagte nicht die volle Wahrheit, aber sie wollte Janet Taylor nicht unnötig belasten. Ihr war klar, dass sie ein wenig bohren und nachhaken musste, vielleicht sogar hin und wieder hart durchgreifen. Das war ihre Fragetechnik; schließlich kam die Wahrheit oft erst unter einem gewissen Druck heraus. Annie wollte es drauf ankommen lassen, und wenn sie Janet Taylor ein bisschen würde zusetzen müssen, dann sollte es so sein. Scheiß auf Chambers und Hartnell. Wenn sie diesen Scheißjob machen musste, dann richtig.
»Keine Sorge«, sagte Janet. »Ich habe nichts gemacht, was ich nicht durfte.«
»Bestimmt nicht. Dann erzählen Sie mal!«
Janet Taylor berichtete ziemlich gelangweilt und distanziert, als sei sie alles schon hundert Mal durchgegangen oder schildere die Erlebnisse eines anderen Menschen. Annie beobachtete ihre Körpersprache. Janet rutschte auf dem Stuhl herum und knetete die Hände im Schoß. Als sie auf die schrecklichen Momente zu sprechen kam, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ihre Stimme wurde flacher, ausdrucksloser. Annie ließ sie weiterreden und machte sich Notizen zu Punkten, die ihr wichtig erschienen. Janet beendete ihre Schilderung nicht, sondern verlor sich in Gedanken, nachdem sie beschrieben hatte, wie sie schließlich auf den Krankenwagen gewartet hatte, Dennis Morriseys Kopf auf ihrem Schoß, sein warmes Blut auf ihren Oberschenkeln. An dieser Stelle ihres Berichts hob sie die Augenbrauen und runzelte die Stirn. Sie hatte Tränen in den Augen.
Als Janet verstummt war, schwieg Annie eine Weile. Dann fragte sie, ob Janet etwas trinken wolle. Sie bat um Wasser, und Annie holte ihr einen Becher vom Wasserspender. Es
war warm im Zimmer, deshalb brachte sie sich selbst auch einen mit.
»Noch ein paar Fragen, Janet. Dann lasse ich Sie in Ruhe, damit Sie Ihre Aussage niederschreiben können.«
Janet gähnte. Sie hielt die Hand vor den Mund, entschuldigte sich aber nicht. Normalerweise hätte Annie ein Gähnen als Zeichen von Angst oder Nervosität gedeutet, aber Janet Taylor hatte guten Grund, müde zu sein, deshalb maß Annie dem jetzt nicht so viel Bedeutung bei.
»Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als es passierte?«, fragte
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