Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Ermittlung zu rekonstruieren. Ebenso wichtig waren die Tätigkeitsbücher. Sie enthielten Einträge über jede Anweisung, die die ermittelnden Beamten vom Vorgesetzten bekommen hatten. Wenn beispielsweise Detective Constable Higginbottom gebeten wurde, den Nachbarn von Joe Smith zu befragen, wurde dieser Befehl, die so genannte »Tätigkeit«, im Tätigkeitsbuch vermerkt, und das Protokoll der Befragung stand in Higginbottoms Merkbuch. Wenn man die Anweisungen analysierte, konnte man sehen, welche Richtung eine Ermittlung eingeschlagen hatte. Die Lektüre der Merkbücher konnte Eindrücke vermitteln, die vielleicht nicht in Abschlussberichten und offiziellen Stellungnahmen festgehalten worden waren.
Vollgeschriebene Merkbücher wurden zunächst einem Detective Inspector vorgelegt, der sie prüfte und, wenn alles in Ordnung war, zur Archivierung an einen Beamten der Registratur weiterleitete. Dementsprechend sammelten sie sich im Laufe der Jahre an. Wenn Menschen behaupteten, unsere Zukunft sei eine Welt ohne Papier, waren es mit Sicherheit keine Polizeibeamten, dachte Michelle, als sie an den Regalreihen entlangging, die bis unter die Decke mit Kisten gefüllt waren.
Mrs. Metcalfe zeigte Michelle, wo die Merkbücher verwahrt wurden. Instinktiv griff Michelle als Erstes zum Fach von Ben Shaw. Aber wie oft sie die Kisten auch durchsah, wie oft sie auch die Daten nachschlug, am Ende stand fest: Wenn es Merkbücher für die ersten ein, zwei Monate nach dem 22. August 1965 gegeben hatte, so waren sie verschwunden.
Shaws Handschrift in den Merkbüchern, die Michelle finden konnte, war schwer zu entziffern, aber sie bekam so gerade heraus, dass sein letzter Eintrag vom 15. August 1965 datierte, als Shaw den Zeugen eines Postüberfalls befragt hatte. Der nächste Eintrag stand im folgenden Band, der mit dem 6. Oktober begann.
Michelle bat Mrs. Metcalfe um Hilfe, aber nach einer halben Stunde musste sich selbst die arme Archivarin geschlagen geben. »Ich habe keine Ahnung, wo sie sind, meine Liebe«, sagte sie. »Es kann höchstens sein, dass mein Vorgänger sie falsch abgelegt hat oder dass sie bei einem der Umzüge verloren gegangen sind.«
»Können sie auch gestohlen worden sein?«, fragte Michelle.
»Von wem denn? Und warum? Schließlich kommen nur Ihre Kollegen hier unten rein. Polizisten.«
Genau das hatte Michelle befürchtet. Bei ihren Sitzungen im Kabuff hätte sie alles Mögliche mitgehen lassen können, ohne dass Mrs. Metcalfe etwas gemerkt hätte. Und so konnte es jeder andere getan haben. Zuerst hatte sich jemand Zugang zu ihrer Wohnung verschafft und versucht, sie von dem Fall abzuhalten, und nun fehlten die Merkbücher von fast zwei Monaten, den entscheidenden zwei Monaten im Mordfall Graham Marshall. Reiner Zufall? Das glaubte Michelle nicht.
Als sie eine halbe Stunde später das gleiche Problem mit dem Tätigkeitsbuch für den Graham-Marshall-Fall hatte, war Michelle überzeugt, dass die beiden Bücher unwiederbringlich verloren waren. Wahrscheinlich hatte sie jemand vernichtet. Aber warum? Und wer? Michelles Verfolgungswahn wurde nicht besser. Sie war völlig verunsichert. Was sollte sie nur tun?
Nach der Befragung von Wells wollte Banks unbedingt an die frische Luft, den beißenden Gestank von Norman Wells' Schweiß hinter sich lassen. Er beschloss, nach Lyndgarth zu fahren und Alastair Ford, Luke Armitages Musiklehrer, einen Besuch abzustatten. Annie koordinierte derweil die Suche nach Lukes geheimnisvoller Freundin.
Nach Banks' Erfahrung waren Musiklehrer eine besondere Spezies, was zum Teil an der frustrierenden Aufgabe lag, die Schönheit von Beethoven und Bach Jugendlichen nahe zu bringen, die längst von Radiohead und Mercury Rev. verdorben waren. Nicht dass Banks etwas gegen Popmusik hatte. Zu seiner Zeit hatte die Klasse den Musiklehrer, Mr. Watson, bedrängt, die Beatles zu spielen. Einmal hatte Watson nachgegeben, aber er hatte keinen glücklichen Eindruck gemacht. Er wippte nicht mit den Füßen, war nicht mit dem Herzen dabei. Aber wenn er die Neue-Welt-Symphonie von Dvorak oder die Symphonie Pathétique von Tschaikowski auflegte, war er wie verwandelt. Dann schloss er die Augen, wiegte sich im Takt, dirigierte, summte das Hauptthema mit. Die Schüler lachten ihn aus oder lasen unterm Tisch Comics, aber er merkte es nicht, er war in einer anderen Welt. Eines Tages erschien Mr. Watson nicht mehr zum Unterricht. Angeblich hatte er einen
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