Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
der sich mit einem muffigen Buchladen durchschlägt. Und dieser Laden ist der letzte Ort, an dem Luke unseres Wissens gewesen ist, bevor er verschwand.«
Wells ließ den Kopf hängen. »Na gut«, sagte er. »Von mir aus. Machen Sie ruhig. Ist mir egal.«
Nach einer schlaflosen Nacht hatte Michelle den ganzen Sonntag gebraucht, um den Schock über den Einbruch zu verarbeiten und ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Erst dann konnte sie es analytischer angehen.
Sie war nicht weit gekommen.
Dass sich jemand Zugang verschafft und Gegenstände umgestellt hatte, um Michelle einzuschüchtern, lag auf der Hand. Warum, war eine ganz andere Frage. Michelle wunderte sich, dass der Eindringling von Melissa wusste. Allerdings konnte man alles Mögliche über sie herausfinden, wenn man wollte. Wenn der Einbrecher Bescheid gewusst hatte, war ihm bei der Durchsuchung der Nachttischschublade schnell klar geworden, dass das Kinderkleid Melissa gehörte und eine Schändung Michelle verletzen würde. Anders ausgedrückt: Es war ein kaltblütiger, berechnender Angriff gewesen.
Angeblich waren die Wohnungen sicher, aber Michelle war lange genug bei der Polizei, um zu wissen, dass ein geschickter Einbrecher so gut wie alles knackte. Zwar widersprach es ihrer Natur vehement, den Einbruch nicht zu melden, aber sie entschied sich dennoch dagegen. Der Hauptgrund war, dass Graham Marshalls Name mit ihrem roten Lippenstift auf den Kommodenspiegel geschrieben worden war. Es war eine Warnung, nicht weiter an dem Fall zu arbeiten. Wer wusste darüber Bescheid? Abgesehen von den Marshalls nur die Kollegen bei der Polizei und Menschen wie Dr. Cooper. Sicher hatte Michelles Name ein-, zweimal in der Zeitung gestanden, als die Knochen gefunden worden waren. Theoretisch konnte jeder in der Grafschaft wissen, dass sie mit dem Fall befasst war. Dennoch hatte Michelle das Gefühl, die Antwort finde sich in ihrer unmittelbaren Nähe.
Wollte sie sich von diesem Fall abhalten lassen? Die Antwort lautete: Nein.
Immerhin hatte sie nicht viel aufräumen müssen. Den gesamten Inhalt des Badezimmerschränkchens hatte sie entsorgt; sie musste sich beim Arzt neue Medikamente verschreiben lassen. Außerdem hatte sie den Inhalt des Kühlschranks in den Müll geworfen, aber das war schnell erledigt gewesen, viel war ja nicht drin. Wichtiger war, dass sie in den Gelben Seiten einen Schmied gefunden und ihn beauftragt hatte, an ihrer Tür eine Kette und einen zusätzlichen Feststellriegel anzubringen.
Durch den Einbruch am Wochenende war Michelle am Montagmorgen ausgelaugt und nervös. Sie sah ihre Kollegen im Präsidium mit anderen Augen. Wussten sie vielleicht mehr als Michelle? Zeigten die anderen mit dem Finger auf sie? Wurde über sie geredet? Es war ein beängstigendes Gefühl. Michelle wich den Blicken ihrer Kollegen aus. Hatte sie Wahnvorstellungen? Michelle versuchte, sie abzuschütteln.
Als Erstes hatte sie eine kurze Besprechung mit Constable Collins, der ihr sagte, die Überprüfung der alten Sittlichkeitsverbrechen habe keine Ergebnisse gebracht. Die meisten, die damals von der Polizei befragt worden waren, waren entweder tot oder saßen im Knast, alle anderen hatten nichts hinzuzufügen. Michelle rief Dr. Cooper an, doch die hatte den Messerexperten, Hilary Wendell, immer noch nicht ausfindig gemacht. Dann ging Michelle hinunter ins Archiv, um die alten Merkbücher und Tätigkeitsbücher durchzugehen.
Seit dem Police and Criminal Evidence Act, dem Gesetz zum Schutz von Verdächtigen, gab es strikte Vorschriften für das Führen von polizeilichen Merkbüchern. Man durfte beispielsweise kein Blatt auslassen. Jede Seite musste paginiert werden, und wenn man versehentlich eine überschlagen hatte, musste man sie durchstreichen und hineinschreiben: »Versehentlich ausgelassen«. Vor jedem Eintrag hatten Datum und Uhrzeit zu stehen, unterstrichen, und am Ende jedes Tages musste der Beamte einen durchgehenden Strich machen. Das alles sollte die Polizisten davon abhalten, Verdächtigen Worte in den Mund zu legen, die sie nie benutzt hatten, oder Geständnisse, die sie nie gemacht hatten. Etwaige spätere Korrekturen waren so unmöglich. Notizen mussten an Ort und Stelle niedergeschrieben werden, oft schnell, und sie mussten genau sein, weil man die Merkbücher möglicherweise vor Gericht benötigte.
Das Merkbuch eines Polizeibeamten konnte von unschätzbarem Wert sein, wenn man versuchte, den Ablauf einer
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