Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
grauhaarige Frau öffnete die Tür. Michelle stellte sich vor. Erstaunt, aber interessiert führte Mrs. Gifford Michelle in ein großes Wohnzimmer. Es war karg möbliert, nur eine dreiteilige weiße Sitzgarnitur, einige antike Schränke voller Kristall und ein großes Side-board. Mrs. Gifford bot Michelle nichts an, sondern setzte sich hin, schlug die Beine übereinander und zündete sich mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette an. Sie hatte einen berechnenden Zug im Gesicht, fand Michelle - um die Augen herum, in den Augen selbst, in der strengen Form des Kinns und den ausgeprägten Wangenknochen. Sie war über siebzig, aber sah wesentlich jünger aus. Ihre Haut war stark gebräunt, das konnte nicht aus England kommen.
»Algarve«, sagte sie, als sie Michelles Blick bemerkte. »Bin letzte Woche zurückgekommen. Mein Mann und ich haben da eine hübsche kleine Villa. Er war Arzt, plastischer Chirurg, aber inzwischen ist er natürlich nicht mehr tätig. Und, was kann ich für Sie tun? Ist lange her, dass ein Freund und Helfer bei mir vor der Tür stand.«
Nach dreiundzwanzig Jahren Ehe mit Jet Harris war Edith Dalton also der große Wurf gelungen. »Ich habe ein paar Fragen«, sagte Michelle. »Sie haben doch bestimmt vom Fall Graham Marshall gehört, oder?«
»Ja. Der Arme.« Mrs. Gifford streifte die Zigarette am Rand des gläsernen Aschenbechers ab. »Was ist damit?«
»Ihr Mann hat damals die Ermittlungen geleitet.«
»Ich kann mich erinnern.«
»Hat er mal mit Ihnen darüber gesprochen, seine Theorien dargelegt?«
»John hat mit mir nie über seine Arbeit gesprochen.«
»Auch nicht in so einem Fall? Bei einem Kind aus der Nachbarschaft? Das muss Sie doch interessiert haben!«
»Sicher. Aber er bestand darauf, zu Hause nicht über seine Fälle zu sprechen.«
»Er hatte also keine Theorien?«
»Keine, die er mit mir geteilt hätte.«
»Können Sie sich an Ben Shaw erinnern?«
»Ben? Klar. Er hat eng mit John zusammengearbeitet.« Sie lächelte. »Wie Regan und Carter, so haben die beiden sich damals gefühlt. Die Füchse. Tolle Typen. Wie geht's Ben? Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Was für eine Meinung hatten Sie von ihm?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Als Mann oder als Polizist?«
»Beides.«
Mrs. Gifford aschte. »Nicht viel, um die Wahrheit zu sagen. Ben Shaw war Johns Trittbrettfahrer, aber er konnte ihm nicht das Wasser reichen. Als Kollege schon gar nicht.«
»Seine Merkbücher vom Fall Graham Marshall sind verschwunden.«
Mrs. Gifford hob die fein nachgezogenen Augenbrauen. »Tja, so ist das nun mal: Die Dinge verschwinden mit der Zeit.«
»Das ist aber ein ziemlich großer Zufall.«
»Trotzdem kommt so was vor.«
»Ich dachte bloß, ob Sie vielleicht etwas über Shaw wüssten, mehr nicht.«
»Zum Beispiel? Wollen Sie wissen, ob Ben Shaw korrupt ist?«
»Ist er das?«
»Das weiß ich nicht. John hat jedenfalls nichts in der Richtung gesagt.«
»Und er hätte Bescheid gewusst?«
»Oh ja.« Sie nickte. »John hätte Bescheid gewusst. Dem entging nicht viel.«
»Sie haben also nie irgendwelche Gerüchte gehört?«
»Nein.«
»Ich habe gelesen, Ihr Mann war im Krieg in einer Nahkampfeinheit.«
»Ja. John ist ein richtiger Kriegsheld gewesen.«
»Wissen Sie, ob er ein Kampfmesser der Marke Fairbairn-Sykes hatte?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Besaß er keine Andenken an den Krieg?«
»Er hat alles abgegeben, als er entlassen wurde. Über die Zeit damals hat er nie groß geredet. Er wollte sie vergessen. Hören Sie, worauf läuft das hier eigentlich hinaus?«
Michelle wusste nicht, wie sie die Karten auf den Tisch legen und Mrs. Gifford fragen sollte, ob ihr erster Gatte bestechlich gewesen sei, aber sie hatte den Eindruck, dass man Mrs. Gifford nichts vormachen konnte. »Sie haben dreiundzwanzig Jahre mit Mr. Harris zusammengelebt«, sagte sie. »Warum haben Sie ihn nach so langer Zeit verlassen?«
Mrs. Gifford hob die Augenbrauen. »Eine sonderbare Frage. Und ziemlich persönlich, wenn ich das sagen darf.«
»Es tut mir Leid, aber ...«
Mrs. Gifford fuchtelte mit der Zigarette herum. »Ja, ja, Sie müssen Ihre Arbeit machen. Ich weiß. Jetzt ist es eh egal. Ich habe gewartet, bis die Kinder aus dem Haus waren. Es ist erstaunlich, womit man sich abfindet, zum Wohle der Kinder und aus Angst vor den
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