Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Gottesdienst. Manche finden es bestimmt seltsam, nach so langer Zeit, aber es war wichtig für mich.«
»Es war nicht seltsam«, sagte Banks und sah sich im Zimmer um. Die meisten Gäste waren Verwandte und Nachbarn, einige von ihnen kannte Banks. Die Eltern von Dave und Paul waren da, auch seine eigenen. Im Hintergrund lief der »Canon« von Pachelbel. Den hätte Graham schrecklich gefunden. Oder vielleicht auch nicht. Sein Geschmack hätte sich mit den Jahren genauso verändert wie der von Banks. Trotzdem hätte er jetzt am liebsten »Ticket to Ride«, »Summer Nights« oder »Mr. Tambourine Man« gehört.
»Ich glaube, es war uns allen wichtig«, erwiderte er.
»Danke«, sagte Mrs. Marshall, den Tränen nahe. »Und du willst wirklich nicht noch ein Glas?«
»Nein, vielen Dank.«
Mrs. Marshall ging weiter. Banks entdeckte Bill Marshall in seinem Sessel am Kamin, eine Decke über den Knien, obwohl es schwül war. Alle Fenster standen auf, trotzdem war es stickig im Haus. Paul unterhielt sich mit einem Ehepaar, das Banks nicht kannte, wahrscheinlich Nachbarn von früher. Dave sprach mit Grahams Schwester Joan. Banks' Eltern redeten mit Mr. und Mrs. Grenfell. Als Banks ein dringendes Bedürfnis verspürte, stellte er sein Glas auf dem Sideboard ab und ging nach oben.
Nachdem er sich erleichtert hatte, sah er vom Flur aus, dass die Tür zu Grahams altem Zimmer offen stand. Überrascht stellte er fest, dass immer noch die alte Tapete mit dem Raketenmuster an der Wand hing. Neugierig betrat er das kleine Zimmer. Alles andere war verändert worden. Das Bett war fort, ebenso der kleine verglaste Bücherschrank, in dem Graham fast nur Science-Fiction gesammelt hatte. Der einzig vertraute Gegenstand war in einem Koffer gegen die Wand gelehnt. Grahams Gitarre. Die hatten sie also aufbewahrt.
Banks setzte sich hin und nahm die Gitarre aus dem Koffer. Graham war so stolz auf sie gewesen. Natürlich hatte er eine elektrische haben wollen, eine Rickenbacker wie John Lennon, aber dann hatte er sich über die gebrauchte Akustikgitarre, die seine Eltern ihm 1964 zu Weihnachten geschenkt hatten, doch gefreut wie ein Schneekönig.
Banks konnte sich auch nach so langer Zeit noch an die Griffe erinnern. Er schlug einen C-Dur-Akkord an. Völlig schräg. Banks verzog das Gesicht. Sie zu stimmen, würde zu lange dauern. Ob Mrs. Marshall sie zur Erinnerung behalten wollte? Oder würde sie ihm die Gitarre verkaufen? Er würde sie mit Freude nehmen. Banks griff einen verstimmten G7-Akkord und schickte sich an, die Gitarre zurück in den Koffer zu legen. Da meinte er, etwas rascheln zu hören. Vorsichtig schüttelte er das Instrument, da war es wieder, ein knisterndes Geräusch.
Neugierig lockerte Banks die Saiten, um mit der Hand in den Resonanzkörper greifen zu können. Nach einigem Jonglieren und Schütteln bekam er etwas zwischen die Finger, das sich anfühlte wie hartes, aufgerolltes Papier. Vorsichtig zog er es heraus. An dem Röllchen hing vertrockneter Tesafilm. Graham hatte es in der Gitarre festgeklebt.
Als Banks das Papier auseinander rollte, sah er den Grund.
Es war ein Foto. Auf einem Schaffell lag Graham vor einem großen, prunkvollen Kamin, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Beine ausgestreckt, und grinste aufreizend in die Kamera.
Er war splitternackt.
Michelle hatte Glück, sie fand einen Parkplatz nur rund hundert Meter entfernt vom protzigen Tudorhaus der ehemaligen Mrs. Harris auf der Long Road in Cambridge, gegenüber dem Gelände des Long Road Sixth Form College. Es nieselte noch immer, Michelle holte den Regenschirm aus dem Kofferraum.
Es war nicht besonders schwer gewesen, Jet Harris' Exfrau ausfindig zu machen. Der Harris-Biografie hatte Michelle entnommen, dass sie vor ihrer Heirat Edith Dalton hieß, von 1950 bis 1973, dreiundzwanzig Jahre lang, mit Harris verheiratet und zehn Jahre jünger als er gewesen war. Diskrete Nachfragen im Büro ergaben, dass eine pensionierte Angestellte, Margery Jenkins, sich hin und wieder mit Harris' Exfrau traf. Gern nannte Margery Jenkins Michelle die Adresse. Und sie erzählte, dass die ehemalige Mrs. Harris wieder geheiratet hatte und jetzt Mrs. Gifford hieß. Michelle hoffte, Shaw würde nicht zu Ohren kommen, welche Art von Ermittlungen sie anstellte, ehe sie die benötigten Informationen bekam. Sie wusste nicht, was Mrs. Gifford ihr erzählen wollte oder könnte.
Eine schlanke, elegant gekleidete
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