Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
geholfen?«
»Sie hatten Angst.«
»Warum haben Ihre Freunde nicht die Polizei gerufen?«
»Es ging alles so schnell. Ich bin zu Steve und Paul zurückgerannt, und wir haben uns nicht mehr umgedreht. Wir haben uns geschworen, unseren Eltern nichts zu erzählen, weil wir ja gar nicht unten am Fluss spielen durften und eigentlich in der Schule hätten sein müssen. Wir dachten, wir würden Ärger bekommen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wie haben Ihre Eltern auf Ihr Gesicht reagiert?«
»Sie waren nicht gerade begeistert. Ich hab gesagt, ich hätte mich in der Schule geprügelt. Insgesamt hab ich wohl ganz schön Glück gehabt. Ich hab versucht, es zu verdrängen, aber ...«
»Es hat nicht funktioniert?«
»Nicht richtig. Obwohl es immer mal wieder längere Zeiträume gab, in denen ich überhaupt nicht dran gedacht hab.«
»Warum glauben Sie, dass der Zwischenfall etwas mit Grahams Tod zu tun haben könnte?«
»Es wäre einfach ein zu großer Zufall gewesen, mehr nicht«, sagte Banks. »Erst versucht mich der Perverse in den Fluss zu stoßen und ins Gebüsch zu zerren, und dann ist Graham auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.«
»Tja«, sagte Michelle, trank ihr Glas aus und klappte das Notizbuch zu. »Dann geh ich mal besser los und schaue, ob ich eine Spur von Ihrem geheimnisvollen Mann finden kann, was?«
* 6
Frisch geduscht und in luftiger, sauberer Kleidung wurde Annie am Nachmittag, wie verlangt, im Büro von Detective Superintendent Gristhorpe vorstellig. Der Raum hatte etwas Nüchternes, Direktorenhaftes, das sie immer einschüchterte. Das lag zum Teil an den hohen Bücherregalen, in denen in erster Linie juristische und gerichtsmedizinische Fachliteratur stand, hier und da aufgelockert durch Klassiker wie Bleak House und Anna Karenina, Bücher, die Annie nie gelesen hatte und deren Umfang und oft erwähnte Titel ihr Ehrfurcht einflößten. Aber es lag auch an Gristhorpes Äußerem: groß, massig, rotgesichtig, wirres Haar, Hakennase, pockennarbige Haut. Heute trug Gristhorpe eine graue Flanellhose und ein Tweedsakko mit Flicken auf den Ellenbogen. Eigentlich fehlte nur noch die Pfeife, aber Gristhorpe rauchte ja nicht.
»Also«, sagte der Alte, nachdem er Annie aufgefordert hatte, sich zu setzen, »jetzt erzählen Sie mir mal, was da draußen in Mortsett los war.«
Annie errötete. »Das war meine persönliche Entscheidung.«
Gristhorpe wedelte mit seiner großen behaarten Hand. »Ich stelle Ihre Entscheidung gar nicht in Abrede. Ich möchte nur wissen, was Ihrer Meinung nach passiert ist.«
Annie entspannte sich ein wenig und schlug die Beine übereinander. »Ich glaube, dass Luke Armitage entführt worden ist. Gestern Abend hat die Familie eine Lösegeldforderung erhalten, und Robin Armitage hat mich angerufen, damit ich die Suche nach Luke einstelle.«
»Aber das haben Sie nicht gemacht.«
»Nein. Denn irgendwas stimmte da nicht. Meiner Meinung nach gilt Luke Armitage erst dann als gefunden, wenn ich ihn mit eigenen Augen gesehen und mit ihm gesprochen habe.«
»In Ordnung. Wie ging es weiter?«
»Wie Sie wissen, Sir, bin ich heute Morgen noch mal zur Familie Armitage rausgefahren. Dort hatte ich das starke Gefühl, dass man mich loswerden wollte, dass irgendwas im Busch war.« Annie berichtete, wie sie Martin Armitage zum Übergabepunkt gefolgt war, oben am Hang gewartet und den Unterstand stundenlang beobachtet hatte, dann irgendwann zurück ins Dorf gegangen war und schließlich jemanden gefunden hatte, dessen Telefon sie benutzen durfte.
»Glauben Sie, dass er Sie gesehen hat, ich meine: der Entführer?«
»Möglich ist das«, gab Annie zu. »Wenn er sich irgendwo in der Nähe versteckt hielt und alles durchs Fernglas beobachtet hat. Da oben ist nur Natur. Aber ich habe das Gefühl, dass er entweder bis zum Einbruch der Nacht wartet...«
»Und riskiert, das Geld den ganzen Tag da liegen zu lassen?«
»Das ist weit ab vom Schuss. Und die meisten halten sich an die gesetzlichen Vorschriften.«
»Oder?«
»Wie bitte?«
»Sie sagten eben >entweder<. Normalerweise kommt danach ein >oder<. Ich habe Sie unterbrochen. Nun, was könnte sonst noch passiert sein?«
»Vielleicht ist etwas schief gegangen, irgendwas, von dem wir nichts wissen.«
»Zum Beispiel?«
Annie schluckte und sah zur Seite. »Zum-Beispiel, dass Luke tot ist. So was kommt vor bei
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