Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
erinnern.«
»Die kennen nicht mehr viele. Soll ich ein paar Zeilen singen?«
»Sie haben doch gesagt, Sie würden keiner Frau etwas vorsingen, die Sie gerade erst kennen gelernt haben.«
»Das hab ich gesagt?«
»Wissen Sie das nicht mehr?«
»Ihnen entgeht nichts, was?«
»Nicht viel. Ich weiß, dass Sie Philip Larkin lesen.«
»Woher?«
»Sie haben ihn zitiert.«
»Ich bin beeindruckt. Wie dem auch sei, keiner weiß, was ein Mensch wie Ronnie Kray denkt. Falls >denken< der richtige Ausdruck ist. Der hat damals schon überall Feinde gesehen und sich immer grausamere Methoden ausgedacht, um anderen wehzutun. Er hat den Leuten gerne Angst eingeflößt, selbst seinen eigenen. Außerdem war er homosexuell; er hatte eine Schwäche für Jungen um die dreizehn, vierzehn. Natürlich hätten sie Graham nicht selbst erledigt - sie hätten sich verlaufen, so weit im Norden -, aber sie könnten jemanden drauf angesetzt haben. Und das ist noch nicht alles.«
»Was denn noch?«
»Wenn Bill Marshall wirklich ein Schläger der Krays gewesen ist, was hat er dann hier gemacht? Sie wissen genauso gut wie ich, dass man so einen Job nicht einfach kündigt. Vielleicht hat er sich mit einem von hier zusammengetan und eine Außenstelle gegründet.«
»Sie meinen, er hat es hier vielleicht mit denselben Tricks versucht, und das könnte was mit Grahams Tod zu tun haben?«
»Ich sag nur, es könnte sein, mehr nicht. Ist einen näheren Blick wert.«
»In den alten Dienstbüchern stand was von Schutzgelderpressung«, sagte Michelle. »Ein Typ namens Carlo Fiorino. Sagt Ihnen das was?«
»Kommt mir bekannt vor«, antwortete Banks. »Vielleicht stand sein Name in der Zeitung, als ich klein war. Auf jeden Fall im Auge behalten.«
»Wieso ist damals keiner auf diese Spur gekommen?«
»Keiner?«, sagte Banks verwundert. »Komisch. Noch einen Kaffee?«
Michelle schaute auf ihre leere Tasse. »Ja.«
Banks holte noch zwei Kaffee. Als er zum Tisch zurückkam, blätterte Michelle in dem Buch.
»Kann ich Ihnen ausleihen«, sagte er. »Ich hab es nur geholt, um zu sehen, ob es ein paar Hintergrundinformationen enthält.«
»Danke. Ich würde es gerne lesen. Hat Graham Ihnen gegenüber je von den Krays gesprochen?«
»Ja, aber ich weiß nicht mehr, ob er behauptet hat, seine Familie hätte mit den Krays zu tun gehabt. Ich hab über den zeitlichen Rahmen nachgedacht. Graham und seine Eltern sind im Juli oder August 1964 nach Peterborough gezogen. Im Juli gab es den großen Skandal, weil Ronnie angeblich eine homosexuelle Beziehung zu Lord Boothby hatte, aber der hat ja alles abgestritten und den Sunday Mirror wegen Verleumdung verklagt. Ronnie versuchte es ebenfalls, aber er bekam nur eine Entschuldigung. Es hatte trotzdem was Gutes, die Presse musste die Krays eine Weile in Ruhe lassen. Kein Verleger wollte wegen Verleumdung vor Gericht gestellt werden. An einem Tag war Ronnie ein brutaler Verbrecher, am nächsten ein ehrenwerter Gentleman. Auch die polizeilichen Ermittlungen kamen ins Stocken. Jeder in der Umgebung der Krays lief wie auf Eiern. Trotzdem wurden sie im darauf folgenden Januar verhaftet, weil sie unter Androhung von Gewalt Geld erpresst hatten. Kaution konnte nicht gestellt werden, der Prozess war im Old Bailey.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Freispruch. Die Anklage hatte von Anfang an nicht viel in der Hand. Es gab Gerede, die Geschworenen seien bestochen worden. Verstehen Sie, damals gab es noch nicht das Mehrheitsurteil. Alle zwölf Geschworenen mussten einer Meinung sein, sonst gab es ein Wiederaufnahmeverfahren. Das hätte den Angeklagten noch mehr Zeit gegeben, alles zu ihren Gunsten zu wenden. Sie haben dem Hauptzeugen der Anklage irgendwas ans Zeug geflickt, und das war's. Freispruch.«
»Was hat das alles mit Graham zu tun?«
»Vielleicht nichts, ich sage nur, dass sich das um 1964, 1965 abgespielt hat, derselbe Zeitraum, mit dem wir es zu tun haben. Die Krays standen unter starker öffentlicher Beobachtung. Die Verleumdungsklage und der Prozess waren groß in den Nachrichten, und als sie ungeschoren davonkamen, waren sie lange unantastbar. Das war ihre Zeit als Edel-Gangster, die dunkle Seite von Swinging London, wenn man so will. Bald wurden sie zusammen mit Filmstars, Sportlern und Popsängern fotografiert: Barbara Windsor, Sonny Liston, Judy Garland, Victor Spinetti - der übrigens in A Hard Day's
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