Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
selbst in seiner Schutzkleidung wirkte er freundlich und nett.
»Stefan!«, grüßte Banks. »Wie läuft's?«
»Wir wollen fertig sein, bevor es anfängt zu regnen«, sagte Stefan. »Bis jetzt haben wir noch nichts im Wasser gefunden, aber die Taucher sind noch drin.«
Banks sah sich um. Wie unberührt und einsam die Landschaft hier oben war. Kaum ein Baum war zu sehen, meilenweit erstreckte sich das Moor, ein Farbgemisch aus gelbem Stechginster, sandfarbenen Grasbüscheln und schwarzen Flecken, wo es kürzlich gebrannt hatte. Das Heidekraut würde erst in ein, zwei Monaten blühen, aber schon jetzt fanden sich die dunklen, drahtigen Stengel überall, flach auf den Boden gedrückt. Die Sicht war atemberaubend, der drohend dunkle Himmel machte sie noch eindrucksvoller. Im Westen konnte Banks sogar die lang gestreckte flache Silhouette der drei Gipfel sehen: Ingleborough, Whernside und Pen-y-ghent.
»Was Interessantes gefunden?«, fragte er.
»Vielleicht«, erwiderte Stefan. »Wir haben versucht, die genaue Stelle an der Mauer zu finden, wo die Leiche rüber-geworfen wurde. Es scheint hier zu sein, wo die Steine wie Treppenstufen vorspringen. Kommt man leicht hoch. Guter Halt.«
»Aha. Aber ein bisschen Kraft braucht man schon dafür, oder?«
»Ach, weiß nicht. Er war vielleicht groß für sein Alter, aber trotzdem noch ein Kind, und er war ziemlich mager.«
»Kann das einer allein geschafft haben?«
»Bestimmt. Ähm, wir haben nach Schleifspuren gesucht. Außerdem kann es sein, dass sich der Mörder beim Hochsteigen verletzt hat.«
»Haben Sie Blut an der Mauer gefunden?«
»Minimale Spuren. Aber immer mit der Ruhe, Alan. Wir wissen noch nicht mal, ob das Blut von einem Menschen stammt.«
Banks sah zu, wie die Spurensicherung die Mauer Stein um Stein abtrug und zum Einsatzwagen transportierte. Was Gristhorpe wohl davon halten würde. Er baute hinter seinem Haus eine Trockenmauer, nur so zum Spaß. Mitten in der Landschaft. Einige dieser Mauern standen schon seit Jahrhunderten, ohne dass sie von irgendeinem Bindemittel zusammengehalten wurden, denn sie waren weit mehr als willkürlich aufgetürmte Steine. Gristhorpe kannte alle Techniken und war geduldig genug, um genau den passenden Stein zu finden. Und diese Männer hier rissen eine solche Mauer ein. Nun, wenn es zu Lukes Mörder führte, war es die eine oder andere Trockenmauer wert. Gristhorpe würde zustimmen.
»Fußabdrücke?«
Stefan schüttelte den Kopf. »Im Gras oder auf dem Boden können Abdrücke gewesen sein, aber die sind jetzt auf jeden Fall weg. Machen Sie sich keine Hoffnung.«
»Tu ich nie! Reifenspuren?«
»Viel zu viele, und der Straßenbelag ist nicht besonders günstig. Aber wir suchen noch. Später kommt ein Botaniker aus York rüber. Kann sein, dass am Straßenrand irgendeine seltene Pflanze wächst, schließlich ist die Stelle nah an einem Gewässer. Man kann nie wissen. Wenn jemand violett getupftes Jakobskraut unter dem Schuh hat, könnte er unser Mann sein.«
»Toll.« Banks ging zu seinem Wagen zurück.
»Chief Inspector?«, rief einer der Journalisten, Banks kannte ihn.
»Was wollen Sie?«, fragte Banks. »Wir haben doch gerade auf der Pressekonferenz alles gesagt, was Sie wissen wollten.«
»Stimmt es, was wir gehört haben?«, fragte der Reporter.
»Was haben Sie denn gehört?«
»Dass es eine verpfuschte Entführung war.«
»Kein Kommentar«, sagte Banks. »Scheiße«, murmelte er vor sich hin, stieg ins Auto, drehte in der nächsten Parkbucht und fuhr nach Hause.
Nachdem Michelle einen pensionierten Detective Inspector, der früher auf der Wache im Londoner West End tätig gewesen war, aufgespürt und überredet hatte, sich am nächsten Tag mit ihr in London zu treffen, verließ sie das Polizeirevier und lieh sich auf dem Heimweg Die Krays in der Videothek aus. Sie hoffte, der Film könne ihr zumindest einen Gesamteindruck vom Leben der Krays und jener Zeit vermitteln.
Seit zwei Monaten wohnte Michelle in ihrem Apartment am Fluss, aber es kam ihr immer noch wie ein Übergangsquartier vor, als wäre sie auf der Durchreise. Ein Grund dafür war, dass sie immer noch nicht zum Auspacken gekommen war - bisher hatte sie nur Bücher, Geschirr, Klamotten und ein paar Kleinigkeiten einsortiert -, ein anderer war natürlich die Arbeit. Überstunden erschwerten eine ordentliche Haushaltsführung, essen tat sie meistens
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