Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
ihm Hagrid eine Ausrede, das Haus verlassen zu können, während Brenda und Kylie, inzwischen vierzehn, wieder ihren sonntäglichen Streit hatten, wo Kylie gewesen sei und was sie noch so spät am Samstagabend getrieben habe. Es gab keine vernünftigen Spazierwege in der Nähe des Dorfes, zumindest keine, die Gilbert nicht schon zum Hals heraushingen, und da er das Meer mochte, fuhr er die kurze Strecke bis zur Küste. Es war ein öder, verlassener Abschnitt, doch gerade das gefiel ihm. Er würde die ganze Gegend für sich haben. Momentan war er lieber mit sich und seinen Gedanken allein. Er fragte sich, ob das etwas mit seinem Alter zu tun hätte, dabei war er erst sechsundvierzig. Das galt ja wohl nicht als alt, höchstens bei Kylie und ihren oberflächlichen Freundinnen.
Gilbert klappte den Kragen seiner Wachsjacke hoch und erschauderte, als er die volle Wucht des kalten Windes zu spüren bekam. Das Gras war rutschig vom letzten Regen. Hagrid schien das nicht zu stören. Er sprang davon, schnüffelte an Gräsern und Gebüschen. Gilbert schlurfte hinter ihm her, die Hände in den Taschen, blickte hinüber zum aufgewühlten Wasser und fragte sich, wie es wohl früher gewesen war, auf einem Walfänger von Whitby aus in See zu stechen. Die Schiffe waren monatelang unterwegs gewesen, die Frauen warteten zu Hause, gingen Tag für Tag am West Cliff entlang und hielten Ausschau nach dem Segel, hofften auf den Kieferknochen eines Wals am Mast, ein Zeichen, dass alle wohlbehalten zurück waren.
Plötzlich sah Gilbert eine Gestalt am Rand der Klippe sitzen. Hagrid preschte darauf zu, kontaktfreudig wie immer. Ein wenig wunderte sich Gilbert, dass auf beiden Schultern eine Möwe saß. Der Anblick erinnerte ihn an eine alte Frau, die er einmal im Park gesehen hatte. Sie hatte auf einer Bank gesessen und Tauben gefüttert, und die Vögel hatten versucht, auf ihr zu landen. Als Hagrid nahe genug war und die Person anbellte, flatterten die Möwen träge auf und zogen abwartend ihre Kreise über dem Wasser. An ihren Blicken sah man, dass sie sich nur vorübergehend hatten vertreiben lassen. Gilbert bildete sich ein, dass sie sich mit ihren Schreien über flugunfähige Kreaturen wie ihn und Hagrid lustig machten, die ihnen nicht folgen konnten.
Hagrid verlor das Interesse und lief zu den Büschen abseits des Weges, hatte vielleicht einen Hasen gerochen. Gilbert ging auf die reglose Gestalt zu, um zu sehen, ob er seine Hilfe anbieten konnte. Es war tatsächlich eine Frau. Zumindest ließen die Sitzhaltung und das über den Kragen fallende lockige Haar darauf schließen. Er rief ihr etwas zu, bekam aber keine Antwort. Da erkannte er, dass sie in einem Rollstuhl saß und in eine Decke gewickelt war. Ihr Kopf war sonderbar abgestützt. Konnte sie sich vielleicht gar nicht bewegen? Es war nicht gerade ungewöhnlich, in der Gegend von Larborough Head eine Frau im Rollstuhl zu sehen - das Pflegeheim war nicht weit entfernt, hin und wieder machten Verwandte mit ihren Eltern oder Großeltern einen Spaziergang an der Küste entlang - aber was um alles in der Welt hatte diese Frau hier ganz allein zu suchen, insbesondere am Muttertag, zurückgelassen in so einer gefährlichen Situation? Es bräuchte nicht viel, nur eine Windböe aus der anderen Richtung, und der Rollstuhl würde über die Kante rutschen. Wo zum Teufel waren die Pflegerin oder die Angehörigen?
Als Gilbert die Frau erreichte, fielen ihm zwei seltsame Umstände fast gleichzeitig auf: Da er von hinten kam, bemerkte er zuerst die unblutigen Kratzer an ihren Ohren. Als er um die Frau herumging, entdeckte er, dass die obere Hälfte ihres Körpers vom Hals bis zu den Oberschenkeln, auch die Decke, blutgetränkt war. Noch bevor Gilbert der Frau in die Augen sah, wusste er, dass sie tot war.
Er schluckte den bitteren Geschmack von Galle hinunter, der in seinem Hals aufstieg, pfiff Hagrid herbei und lief zum Auto. Er wusste, dass das Handy hier draußen keinen Empfang hatte und er mindestens zwei Meilen landeinwärts fahren musste, ehe er die Polizei benachrichtigen konnte. Gilbert hätte die Frau lieber nicht allein den Möwen überlassen, aber was sollte er tun? Als könnten die Vögel seine Gedanken lesen, flogen die beiden kühnsten zu der reglosen Gestalt zurück, kaum dass Gilbert ihr den Rücken zugewandt hatte.
Mitten in »Low Down« von Tom Waits zog Banks den Stöpsel seines iPods heraus und schob ihn in seine Tasche. Er stieg aus dem warmen
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