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Inspector Banks kehrt heim

Titel: Inspector Banks kehrt heim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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er sie zum ersten und einzigen Mal gesehen hatte, und er verspürte keinerlei Bedürfnis, sie ihrer Unschuld zu berauben, wollte nur an dieser Unschuld teilhaben. Das Mädchen roch nach Herbstäpfeln, und alles, was sie zusammen sahen und taten, wurde zum Quell purer Freude. Wenn Debbie lächelte, wollte Reeds Herz vor Glück fast zerspringen.
      Am Ende der dritten Woche stutzte Reed seinen Bart, holte seinen Anzug hervor und ging zur Arbeit. Im Büro erwarteten ihn verlegenes Schweigen von Bill und ein Abfindungsscheck von Frank, den er Reed ohne ein Wort der Erklärung in die Hand drückte. Reed zuckte mit den Schultern, steckte den Scheck ein und verschwand.
      Wann immer er in die Stadt ging, starrten ihn die Leute an. Wenn er einen Pub betrat, tuschelten sie. Mütter griffen nach den Händen ihrer Töchter, wenn sie Reed in der Einkaufspassage erblickten. Er schien in seiner Heimatstadt eine negative Berühmtheit erlangt zu haben. Zuerst verstand er den Grund nicht, doch dann nahm er eines Tages all seinen Mut zusammen und ging in die Bücherei. Er las die Zeitungen, die während seines Prozesses erschienen waren.
      Was er las, war reiner Rufmord, nichts weniger. Als die Schlagzeilen schließlich verkündeten, der wahre Mörder sei gefasst, machte das keinen Unterschied mehr. Da war Reeds Ruf bereits ramponiert, unwiederbringlich. Er mochte unschuldig am Tode des Mädchens sein, dennoch befand man ihn für schuldig: schuldig, ein perverser Pornokonsument zu sein, heiß auf kleine Mädchen, keinen hochzubekommen, solange sich die Partnerin nicht vehement wehrte. Natürlich stimmte das alles nicht, aber irgendwie war das unerheblich. Die Behauptungen hatten sich verselbständigt. So stand es geschrieben, so musste es sein. Und zur Krönung war fast jeden Tag sein Foto veröffentlicht worden, mit und ohne Bart. Es konnte nur noch sehr wenige Menschen in England geben, die ihn nicht auf der Straße erkannten.
      Reed stolperte nach draußen in den dunstigen Nachmittag. Es wurde Frühling und langsam wärmer, aber die Luft war feucht und grau, ein feiner Nieselregen schien wie Nebel zu schweben. Die Pubs waren noch geöffnet, er betrat den nächstbesten und bestellte einen doppelten Scotch. Die anderen Gäste beäugten ihn misstrauisch. Er saß zusammengesunken in der Ecke, die Augen geschwollen und blutunterlaufen vom Schlafmangel, den Blick nach innen gerichtet.
      Als Reed eine Stunde später im Nieselregen auf der Brücke stand, konnte er sich nicht mehr erinnern, tatsächlich bewusst entschieden zu haben, sich hinunterzustürzen, aber er wusste, dass er es tun musste. Er wusste nicht einmal mehr, warum er gerade auf diese Brücke gelangt war und wie er vom Pub hierhergekommen war. Beim dritten doppelten Scotch hatte er überlegt, sein Leben woanders neu aufzubauen, vielleicht sogar im Ausland. Aber das schien ihm keine gute Lösung zu sein. Das Leben ist das, womit man leben muss, was man ist, und sein Leben war nun das, was es geworden war oder wozu es gemacht worden war. Es war das Ergebnis des Umstands, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, und damit musste er leben. Das Problem war: Er konnte es nicht. Und deshalb musste er sterben.
      Den Fluss unter sich konnte er nicht erkennen - alles war grau -, aber er wusste, dass er dort war. Eden hieß er. Bitter lachte Reed in sich hinein. Was kann ich dafür, dass der Fluss durch Carlisle Eden heißt, dachte er. Eine der kleinen Ironien des Schicksals.
      Fünf nach halb vier an einem feuchten Mittwochnachmittag. Niemand in der Nähe. Warum nicht jetzt?
      Als er auf die Brüstung klettern wollte, löste sich eine Gestalt aus dem Nebel. Es war das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule. Der graue Faltenrock umspielte ihre langen dünnen Beine, ihre Socken hingen auf den Knöcheln. Die weiße Bluse unter ihrem grünen Blazer war vom Regen so feucht geworden, dass sie auf ihrer Haut klebte. Voll heiliger Scheu schaute Reed sie an. Ihr langes blondes Haar war vom Regen dunkel und lockig geworden und klebte an ihren Wangen. Sie hatte Tränen in den Augen. Reed löste sich von der Brüstung.
      Sie kam näher und lächelte schüchtern.
      Unschuldig.
      Reed streckte die Arme nach ihr aus und weinte wie ein kleines Kind.
      »Hallo«, sagte er.
     
     

* Mord in Utopia
     
    Gerade hatte ich die Operation beendet und den Stumpf von Ezekiel Metcalfes linkem Arm kauterisiert. Er musste amputiert werden, weil Metcalfe in eine

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