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Inspector Banks kehrt heim

Titel: Inspector Banks kehrt heim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Wollkämmmaschine geraten war. Da kam der junge Billy Ratcliffe hereingeplatzt und rief, es sei jemand in das Wehr gefallen.
      In der Annahme, meine ärztlichen Fähigkeiten könnten vonnöten sein, überließ ich die Versorgung von Ezekiel meinem Assistenten Benjamin und schickte mich an, mit dem jungen Billy Schritt zu halten, der mir voraus in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Victoria Road hinunterlief. Damals war ich zwar noch kein alter Mann, verbrachte mein Leben aber, wie ich zugeben muss, eher im Sitzen, und so keuchte ich bereits bei den Schrebergärten vor der Weberei. In gemäßigtem Tempo überquerten wir die Eisenbahnschienen und den Kanal, ehe wir die gusseiserne Brücke erreichten, die sich über den Aire spannt.
      Mehrere Männer hatten sich auf der Brücke eingefunden und schauten ins Wasser hinunter, wiesen auf eine dunkle Gestalt, die in der Strömung auf und ab hüpfte. Kaum hatte ich einen ersten Blick auf den Schauplatz geworfen, war mir klar, dass meine Fähigkeiten der armen Seele nichts mehr nützen würden. Der Mantel hatte sich in einer Baumwurzel verfangen, die aus der Uferbefestigung ragte.
      »Hat ihn jemand fallen sehen?«, fragte ich.
      Alle schüttelten den Kopf. Ich suchte mehrere kräftige Burschen aus und führte sie durch das Gebüsch hinunter ans Ufer. Nach mehreren Versuchen gelang es den Männern, den Toten an beiden Armen zu fassen, indem sie sich nah am Ufer auf den Bauch legten. Langsam zogen sie die tropfnasse Leiche aus dem Wasser.
      Die Menschen auf der Brücke schnappten nach Luft. Auch wenn das weiße Gesicht des Toten durch Schnitte und Wunden stark entstellt war, durfte es kaum einen unter den Anwesenden geben, der in ihm nicht Richard Ellerby erkannt hätte, einen der Wolleinkäufer von Sir Titus Salt.
      Saltaire, wo sich im Frühjahr 1873 die traurige Begebenheit zutrug, die ich hier schildere, war damals ein »Modelldorf«, der utopische Entwurf für vier- bis fünftausend Webereiarbeiter, errichtet von Sir Titus Salt im Tal des Aire zwischen Leeds und Bradford. Das Dorf mit dem Straßennetz im schlichten Schachbrettmuster gibt es noch immer, es hat sich seit damals kaum verändert. Man findet es hinter den Eisenbahnschienen ein wenig südwestlich der gewaltigen, sechs Stockwerke hohen Wollweberei, der es seine Existenz verdankt.
      Da es in Utopia keine Kriminalität gab, brauchte man keine Polizei. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es Unannehmlichkeiten oder Unruhe gab, verließen wir uns auf die Wachtmeister der nächstgelegenen Ortschaften. Bei Richard Ellerbys Tod gab es sicherlich keinen Grund, ein Verbrechen zu vermuten, aber wann immer die Todesumstände nicht auf den ersten Blick erkennbar waren, mussten die gesetzlichen Vorschriften befolgt werden.
      Mein Name ist Dr. William Oulton, ich arbeitete damals als Arzt und Wissenschaftler am Krankenhaus von Saltaire, wo ich die Verbindung zwischen Rohwolle und Milzbrand erforschte. Obendrein fungierte ich als Gerichtsmediziner, daher machte ich es mir zur Aufgabe, die Umstände von Richard Ellerbys Tod zu untersuchen.
      In diesem Fall hatte ich auch ein persönliches Interesse, denn der Verstorbene war ein Bekannter von mir, mehrmals hatte ich mit ihm und seiner bezaubernden Gattin Caroline zu Abend gegessen. Richard und ich waren Mitglieder des Saltaire-Instituts, Sir Titus' aufgeklärter Alternative zu den übel beleumundeten Lokalen, wo wir oft gemeinsam Kammermusikkonzerte besucht, Billard gespielt oder uns im Raucherzimmer entspannt hatten, einmal sogar über die mit der Einfuhr von Wolle verbundenen möglichen Gesundheitsrisiken diskutiert hatten. Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass ich Richard gut kannte - er war in meiner Gesellschaft in vielerlei Hinsicht reserviert und zurückhaltend -, aber ich wusste, dass er ein ehrlicher, fleißiger Mann war, der aufrichtig an Sir Titus' Vision glaubte.
      Die Obduktion am nächsten Tag ergab lediglich, dass Richard Ellerby genug Wasser in der Lunge hatte, um das Urteil »Tod durch Ertrinken« zu rechtfertigen. Ich möchte wiederholen: Es gab keinerlei Anlass, ein Verbrechen zu vermuten. Schon öfter waren Menschen in das Wehr gefallen und ertrunken. Überfall und Mord waren keine Verbrechen, die den Einwohnern von Utopia in den Sinn kamen. Dass Richards Schädel hinten gebrochen und Gesicht und Körper mit Kratzern und blauen Flecken übersät waren, ließ sich leicht mit dem Sturz über das Wehr erklären. Es war Mai,

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