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Inspector Banks kehrt heim

Titel: Inspector Banks kehrt heim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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das Tauwetter hatte hoch oben in den Pennines so viel Schnee schmelzen lassen, dass die Wassermassen von den Quellen mit großer Wucht herunterdonnerten. Zweifellos konnten sie die an der Leiche festgestellten Verletzungen hervorgerufen haben.
      Natürlich war auch eine andere Erklärung denkbar, und vielleicht war ich deshalb nicht willens, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
      Wer aus meinem Ton schließen möchte, dass ich nicht so überzeugt von Saltaires Status als modernem Utopia war wie meine Zeitgenossen, darf sich zu seiner Empfindlichkeit in Bezug auf die Nuancen unserer Sprache beglückwünschen. Wenn ich an jene Tage zurückdenke, frage ich mich jedoch, ob das Glas, durch das ich in die Vergangenheit schaue, nicht durch meine heutige Meinung getrübt wird. Ein wenig vielleicht. Ich weiß jedoch, dass ich völlig überzeugt war von Sir Titus' Glauben an die Sache, dennoch vermute ich, dass ich schon damals, nach nur dreißig Jahren auf dieser Erde, viel zu viel von der menschlichen Natur gesehen hatte, um an eine utopische Gemeinschaft wie Saltaire zu glauben.
      Außerdem besaß ich noch eine weitere Eigenschaft, die mir einfach keine Ruhe ließ: Wäre ich eine Katze, wäre ich inzwischen tot, trotz der neun Leben - ich bin einfach zu neugierig.
      Es war wieder ein schöner Morgen, als ich Benjamin die Visite übergab und das Krankenhaus in einer Angelegenheit verließ, die mich bereits seit zwei Tagen beschäftigte. Die Wohnheime auf der anderen Straßenseite, zurückgesetzt hinter einem breiten Grasstreifen, boten einen hübschen Anblick. Auf Bänken unter Bäumen mit rosafarbenen und weißen Blüten saßen Rentner und schmauchten ihre Pfeifen. Als Männer von »vorbildlichem Charakter« profitierten sie von Sir Titus' Großzügigkeit, bekamen eine freie Unterkunft und eine Pension von sieben Shilling sechs Pence die Woche, doch nur solange ihr »vorbildlicher Charakter« als gesichert galt. Wohltaten sind schließlich nicht für jeden, sondern nur für Menschen, die sie verdienen.
      Damit niemand meint, ich sei in meinem jungen Alter schon zynisch, muss ich zugeben, dass ich vieles an Saltaire bewundernswert fand. Anders als Bradford mit seinen engen, stickigen, schmutzigen Elendsvierteln, wo sich zehn oder mehr Menschen einen dunklen feuchten Keller teilten, der bei jedem Regenguss unter Wasser stand (ich hatte es mit eigenen Augen gesehen), war Saltaire als offener, luftiger Ort angelegt. Alle Straßen waren gepflastert und besaßen einen Rinnstein, was die Verbreitung von Krankheiten unterband. Jedes Haus hatte einen Abtritt im Hof, der regelmäßig geleert wurde. So konnten sich keine Krankheiten ausbreiten, die durch die gemeinsame Benutzung solcher Einrichtungen entstehen. Darüber hinaus forderte Sir Titus Maßnahmen zur Verminderung des Rauchausstoßes aus der Weberei, damit wir nicht unter einer Wolke erstickender Dämpfe lebten und unsere hübschen Sandsteinhäuser nicht von einer Rußschicht überzogen wurden. Dennoch: Alles hat seinen Preis. In Saltaire war es das Gefühl, unablässig die moralische Vision eines anderen leben zu müssen.
      Ich bog nach links in die Titus Street, vorbei an dem Haus mit dem »Späher«-Turm auf dem Dach. Der Turm bestand aus einem einzigen Raum voller Fenster, wie ein Leuchtturm. Oft hatte ich da oben eine schattenhafte Gestalt gesehen. Man munkelte, Sir Titus habe einen Mann angestellt, der das Dorf mit einem Fernrohr überwache, um jedes Anzeichen einer Störung aufzuspüren und Sir Titus zu melden. Ich meinte, im Vorbeigehen jemanden dort oben zu sehen, möglicherweise spielte mir aber auch die Sonne einen Streich.
      Wie gewöhnlich hatten einige Frauen ihre Wäsche zum Trocknen auf die Ada Street gehängt. Zwar wusste jeder, dass Sir Titus diese Angewohnheit missfiel - er hatte sogar großzügig öffentliche Waschhäuser errichten lassen, um die Leute davon abzuhalten -, aber auf diese Weise demonstrierten sie ihre Unabhängigkeit, drehten der Obrigkeit eine lange Nase.
      Wie es sich für einen Wolleinkäufer gebührte, wohnte Richard Ellerby mit seiner Gattin und zwei Kindern in einem der größeren Häuser auf der Albert Road mit Blick gen Westen, in die offene Landschaft, fort von der Mühle. Wie es der örtlichen Tradition bei einem Trauerfall entsprach, waren die Vorhänge im ersten Stock zugezogen.
      Ich klopfte an die Tür und wartete. Caroline Ellerby persönlich öffnete mir die Tür und bat mich herein. Sie war eine

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