Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
hörte zu und reagierte mit gespannter Konzentration auf alles, was um ihn herum auf der Bühne vor sich ging. Lange vor der Premiere konnte er schon an nichts anderes mehr denken. Als es dann soweit war und er in der überfüllten Garderobe mit zittrigen Händen zuviel Make-up auflegte, wurde ihm auf einmal bewußt, daß er seine Zeilen vergessen hatte. Verzweifelt suchte er das Buch, kritzelte seine Sätze auf ein Blatt Papier und steckte es in den Bund seiner handgesponnenen Hose. Während er in den Kulissen wartete, überkam ihn auf einmal ein Anfall von Übelkeit, und er übergab sich neben dem Feuerlöscher.
Als er schließlich auf die Bühne trat, traf ihn das Entsetzen mit der Kraft eines Orkans - Reihen von Gesichtern verschwammen in seinem Blickfeld. Er blickte noch einmal hin und dann wieder fort. Er sprach seine erste Zeile. Die Strahler brannten, aber ihm war durch das Hochgefühl und die Aufregung zugleich eher kühl, und als eine Zeile nach der anderen bis zur letzten, so, wie er sie brauchte, in sein Gedächtnis zurücksprangen, machte er zum ersten Mal die Erfahrung dieses seltsamen doppelten Bodens, der einen Schauspieler immer in der Realität hält. Ein Teil von ihm glaubte sich in Proctors Küche in Salem, mit den eisernen Töpfen und Pfannen, den armseligen Möbeln und den verängstigten Menschen, ein anderer Teil von ihm war sich aber auch dessen bewußt, daß ein Hocker an den falschen Platz gerückt worden war und John Proctor immer noch so vor seiner Frau stand, daß niemand sie sehen konnte, und daß Mary Warren ihre Kappe vergessen hatte. Hinterher im Vereinsraum machte er die Erfahrung warmherziger, enger Kameradschaft (»Das Spiel zu enden, begrüßt uns mit gewog’nen Händen«), die vorübergehend jedes derzeitige Mögen oder Nichtmögen innerhalb der Gruppe zu überwinden schien.
In der Pantomime spielte er die hinteren Beine eines Pferdes, und dann wurde ihm die Rolle des Danny in Die Nacht muß kommen angeboten. Die Proben begannen sechs Wochen vor seinem Abitur, und er wußte, daß er durch die Prüfung fallen würde. Das ewige Gemurre, das seit Monaten bei ihm zu Hause herrschte, weil er soviel Zeit im Latimer verbrachte, entlud sich in einem heftigen Streit, und er ging fort. Fast gleichzeitig bot Avery ihm das kleine Zimmer über der Blackbird-Buchhandlung an. Es kostete ihn keine Miete; statt dessen wischte er jeden Morgen im Laden Staub und putzte einmal pro Woche Averys Haus.
Nun wohnte er schon seit fast einem Jahr hier und lebte (manchmal vorzüglich) von Averys Resten, meistens von gebackenen Bohnen aus der Dose, die er vom Supermarkt, in dem er arbeitete, mitbrachte. Fast sein gesamter Lohn ging für Stimmbildungs- und Bewegungslehrgänge drauf - er hatte einen hervorragenden Lehrer in Slough entdeckt - und für Theaterkarten. Einmal pro Monat fuhr er per Anhalter nach London, um sich ein Stück anzusehen, weil er hoffte, seinen Akku durch gelegentliche Injektionen von dem, was er für das Wahre hielt, aufzuladen. (Nach einer außerordentlichen Vorstellung von Die lustigen Weiber von Windsor im Barbican, entschloß er sich, epikuräische Rede für seinen Vor-sprechtermin zu lernen.)
Er wußte immer noch nicht, ob er gut war. Brenda Leggat, die erste Cousine der Smys, schrieb in einer lokalen Zeitung über die Produktionen der CADS, und ihre Erkenntnisse waren genauso originell wie ihre Prosa. Jede Komödie war spritzig, jede Tragödie herzergreifend. Und Vorstellungen, die wirklich mal nicht in dieses Raster paßten, waren dann zumindest eine Mischung aus allem, was wir von einem Schauspieler/einer Schauspielerin/einer Soubrette/der Naiven/der gesamten Getränkebar erwarten dürfen. Auch die Gruppe durchschaute Nicholas bald gut genug, um zu wissen, daß jede direkte Frage zu seinen Auftritten entweder mit einlullenden Bemerkungen oder übersprudelnden Bestätigungen beantwortet wurde. Im Vereinsraum wurde viel über abwesende Freunde gesprochen, aber es war fast unmöglich für einen Darsteller, eine ehrliche Meinung ins Gesicht gesagt zu bekommen. Jeder außer Esslyn und den Everards (und natürlich Harold) erklärte Nicholas, er sei wunderbar. Harold lobte ohnehin sehr selten (er bemühte sich, sie alle an der kurzen Leine zu halten), und wenn, dann nur zu den Premierenabenden, an denen er sich wie ein Broadway-Impresario aufführte, sich hysterisch gab, jeden küßte, Blumen verteilte und sich sogar eine theatralische Träne abrang.
Nicholas
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