Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
Esslyns Gesicht sehen konnte und mit wachsendem Schrecken beobachtete, wie er seine Frau bei den Schultern packte und sie schüttelte, und zwar nicht in der gespielten Wut, wie bei den Proben, sondern in wildem Zorn, mit gefletschten Zähnen. Kittys Schreie wurden ebenfalls immer echter. Sie wurde herumgewirbelt, das Haar fiel ihr in goldenen Strähnen über das Gesicht, und ihr Kopf wurde nach vorn und wieder zurückgeschleudert, so als hätte er keinen natürlichen Halt mehr. Es schien nur noch eine Frage von Augenblicken, wann ihr Genick brechen würde. Dann schleuderte Esslyn sie derart gewaltsam von sich, daß Kitty über die Bühne schlitterte und erst zum Halten kam, als sie in den Proszeniumsbogen krachte.
Dierdre war wie gelähmt und konnte gerade noch fragend Colin ansehen. Ihre Hand bewegte sich bereits auf den Auslöser des Vorhangs zu, aber Colin schüttelte den Kopf. Kitty stand einen Moment atemlos da und rang nach Luft, dann sog sie wie eine Ertrinkende den Atem ein, machte zwei Schritte nach vorn und fiel in Dierdres Arme. Dierdre führte sie zu dem einzigen freien Platz in der bevölkerten Kulisse (neben dem Requisitentisch) und hob einen der kleinen vergoldeten Stühle auf. Sie setzte das Mädchen behutsam auf den Stuhl, reichte ihr Schreibbrett Colin und nahm Kittys Hand in ihre.
»Ist sie in Ordnung?« Nicholas kam auf Dierdre zu und flüsterte: »Was zum Teufel ist denn hier los?«
»Es ist Esslyn. Ich weiß nicht... es scheint, als hätte er sich plötzlich etwas ganz Neues einfallen lassen. Er hat sie einfach über die Bühne geschleudert.«
»Himmel...«
»Kannst du hier bei ihr bleiben, solange ich ein paar Aspirin hole?«
»Ich muß in zwei Sekunden raus.«
»Dann ruf doch bitte einen der unwichtigeren Bühnenarbeiter. Kitty... ich bin gleich wieder da, klar?«
»...mein Rücken... ahhh... Gott...«
Dierdre rannte zur Damengarderobe. Der Erstehilfekasten stand immer unter der Fensterbank in einer Ecke hinter den Kostümstangen, aber jetzt war er nicht dort. Verzweifelt begann sie, ihn zu suchen, und warf dabei wahllos die Straßenkleidung der Darstellerinnen - Rosas Pelzmantel, Joyces grauen Wollmantel, verschiedene Kleider und Blusen - durch die Gegend. Sie kniete sich hin, schleuderte Schuhe und Stiefel zur Seite. Nichts. Und dann sah sie ihn. Er stand hinter Rosas Perückenhalter. Sie ergriff den Kasten, nahm die Packung Aspirin heraus und kämpfte anschließend mit dem Schraubverschluß. Er schien irgendwie zu klemmen. Dann fiel ihr ein, daß es sich um eine Kindersicherung handelte und sie den Schraubdeckel erst nach unten drücken mußte. Als sie schließlich drei Tabletten herausgeholt hatte, erkannte sie jedoch die Vergeblichkeit ihres Tuns. Aspirin war gut gegen gewöhnliche Unpäßlichkeiten. Kopfschmerzen, erhöhte Temperatur. Was aber, wenn Kittys Wirbelsäule verletzt war? Was war, wenn jede Sekunde Nichtstun die schreckliche Gefahr einer Lähmung vergrößerte? Plötzlich bekam Dierdre es mit der Angst zu tun. Sie hätte nicht auf Colin achten und die Aufführung stoppen sollen. Sie hätte fragen müssen, ob ein Arzt anwesend wäre. Sie würde die Schuld daran tragen, wenn Kitty nie wieder laufen konnte. Sie verbannte diese furchtbare Vorstellung aus ihrem Kopf und stammelte: »Wasser... Wasser.« Es standen etliche Tassen und Plastikbecher herum, aber in allen waren dreckige braune Reste. Dierdre nahm die nächstbeste Tasse, spülte sie kurz aus, füllte sie halb mit Wasser und rannte in die Kulissen zurück.
Das erste, was sie hörte, war Nicholas’ Stimme auf der Bühne. Das bedeutete, daß die erste Szene bereits vorbei war; das Bühnenbild wurde gewechselt und der zweite Aufzug würde gleich beginnen. Sie war also länger unterwegs gewesen, als sie geglaubt hatte. Sie eilte zu dem Requisitentisch, doch der Stuhl, auf dem sie Kitty zurückgelassen hatte, war leer. Dierdre ging auf Colin zu, der ihr »Wo ist sie?« mit den Worten beantwortete: »Auf der Toilette.«
Als Dierdre hereinkam, lief Kitty auf dem gefliesten Boden auf und ab. Ihr Gang war steif, und sie blieb zwischendurch immer wieder stehen, um ihre Schultern zu entspannen, aber sie lief immerhin, Gott sei Dank. Dierdre reichte ihr das Aspirin und das Wasser, um mit einer Flut von Schimpfwörtern bedacht zu werden, wie sie diese noch nie zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Tatsächlich galten sie alle Kittys Ehemann, aber Dierdre, die nun einmal zufällig in
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