Inspector Barnaby 05 - Treu bis in den Tod
Treppe hinaufstiegen, fügte er mit kläglicher Stimme hinzu: »Wir sind in den letzten Tagen sehr viel hier oben gewesen.«
Er blieb unglücklich an der Tür stehen, während Barnaby, der lieber allein gewesen wäre, sich in dem stillen, verlassenen Zimmer umsah.
Über einer Stuhllehne hing ein rosafarbener Frotteebademantel. Gardinen und Tagesdecke waren aus dem gleichen karierten Stoff mit langweiligen Blättern und Blumen. Es gab einen Radiowecker und einige gemalte Landschaften, die so charakterlos waren, daß sie überall hätten sein können. Über dem Bett hing ein großer gerahmter Druck von zwei Straßenkindern, ein Junge und ein Mädchen, die sich weinend an den Händen hielten. Ihre Tränen klebten in Form von kleinen durchsichtigen Glasperlen an ihren Wangen.
Barnaby, der solche Szenen mehr als einmal in der Realität erlebt hatte, war verblüfft. Was für ein Mensch würde denn zu Hause ständig Bilder von verzweifelten Kindern um sich haben wollen?
Er öffnete den Kleiderschrank und warf einen kurzen Blick hinein. Graubraune Kostüme, ein einziges gemustertes Kleid (braun und olivgrün), mehrere Paar schwarze und dunkelblaue Pumps, alle auf Schuhspannern. Ein trister Mantel. In den Schubladen der Frisierkommode befanden sich schlichte Baumwollunterwäsche und mehrere dicke fleischfarbene Strumpfhosen. Kein Parfüm oder Make-up. Vielleicht hatte sie seit langem erkannt, daß sie auch mit kosmetischen Mitteln nichts verbessern, geschweige denn grundlegend verändern konnte.
Neben dem schmalen Bett war ein Regal, dessen Glasscheiben auf verschnörkelten, weißgestrichenen Metallträgern ruhten. Darauf standen einige Stofftiere, außerdem ein kleiner Stapel Liebesromane.
Barnaby wandte sich nun dem hübschen antiken Schreibtisch am Fenster zu und öffnete die Klappe. Der Tisch enthielt nichts außer einem flachen, dunkelgrünen Buch mit einem schönen Einband aus Chagrinleder. Er nahm es heraus und schlug es auf, was Reg nach langem Schweigen zum Sprechen veranlaßte.
»Verzeihen Sie, Inspector. Ich denke, das könnte eine ziemlich persönliche Angelegenheit sein.«
»Gerade die persönlichen Dinge könnten uns am meisten weiterhelfen, Mr. Brockley.« Barnaby schaltete die kleine Bogenleuchte an, rückte den rosanen Schirm zurecht, schlug willkürlich eine Seite auf und fing an zu lesen.
3. April: Heute haben die Dinge eine ganz neue Wendung genommen. A. hat herausgefunden, wo ich arbeite! Als ich aus dem Büro kam, bin ich im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm »zusammengestoßen«. Und da lag etwas in seinem Gesichtsausdruck - ein wenig schuldbewußt, aber gleichzeitig aufgeregt und interessiert -, das mir sagte, daß dies kein Zufall war.
Nach diesem zufälligen Zusammenstoß wollte er mich unbedingt zum Mittagessen einladen. Wir sind in den Lotus Garden gegangen, wo wir sehr viel Spaß hatten, weil ich partout nicht mit den Stäbchen umgehen konnte. Er bestand darauf, es mir beizubringen, wobei es natürlich reichlich zu korrigierendem »Handauflegen« kam. Seine Finger sind schlank, aber so stark. Haben sie ein bißchen zu stark gedrückt und mit unnötiger Wärme? Er hat ja so lachende Augen. Als unsere Blicke sich begegneten, haben wir, glaube ich, beide gewußt, daß soeben etwas äußerst Bedeutungsvolles passiert war.
Mit ungläubiger Miene blätterte der Chief Inspector in den mit leuchtendgrüner Tinte, die sicher hätte lila sein sollen, beschriebenen Seiten herum und nahm dann den Faden wieder auf.
7. Mai: Strikt gegen die Regeln hat A. angefangen, mich bei der Coalport anzurufen. Muß ich erwähnen, daß sich um mich herum sämtliche Augenbrauen hoben? Trish Travers machte eine Bemerkung über seine sexy Stimme, und alle stellten mir Fragen. Ich habe mich in diskretes Schweigen gehüllt und nur gesagt: »Kein Kommentar zum jetzigen Zeitpunkt.«
Ich bin entschlossen, ihm nicht zu erliegen, aber er sieht ja so gut aus. Hat mich erneut zum Mittagessen überredet - diesmal im Star of India. Da hat er mir gestanden, was ich schon lange vermutet habe. Seine Ehe ist eine leere Hülle, und er ist furchtbar unglücklich. Er hat ja keine Ahnung, daß auch ich mich oft einsam gefühlt habe, weil der Auserwählte unerreichbar schien. Bis jetzt. Wider bessere Einsicht und aus reinem Mitgefühl ließ ich meine Hand kurz auf seiner ruhen. Da wurden diese lachenden Augen plötzlich todernst und schienen direkt in meine Seele zu blicken. Ich
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