Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
sagen.«
Ann trat ein paar Schritte zurück, tastete hinter sich nach dem Fenstersitz und ließ sich langsam darauf sinken. Was sollte sie jetzt tun? Sie war vor Unentschlossenheit und Angst wie gelähmt. Das Auftauchen von Hetty Leathers befreite sie aus dieser Situation.
»Entschuldigen Sie.« Mrs. Leathers, die einen Plastikeimer voller Putzmittel und Lappen in der Hand hatte, schob sich energisch an dem Chauffeur vorbei. »Manche Leute müssen auch arbeiten.«
Er blinzelte einmal mit den Augen und war geschmeidig wie ein Iltis verschwunden. Für Mrs. Leathers war nicht zu übersehen, dass es Ann sehr schlecht ging.
»Regen Sie sich doch nicht über dieses Stück Dreck auf.«
Es war Mrs. Leathers ein Rätsel, wie der Reverend seine Frau solchem Gesindel aussetzen konnte. Sie nahm die abgenutzte Spitzendecke vom Tisch und faltete sie zusammen. »Je eher der Leine zieht, desto besser.«
»Es ist nicht nur wegen ihm.« Ann nahm all ihren Mut zusammen. »Carlotta ist weggelaufen.«
»Die fällt wieder auf die Füße. Das tun solche Leute immer.« Normalerweise war Mrs. Leathers nicht so direkt. Sie bemühte sich, dem Reverend genauso treu ergeben zu sein wie seiner Frau, aber heute musste sie einfach ihre Meinung sagen. Ann sah wirklich elend aus. »Ich bin mit der Küche fertig. Machen Sie sich doch eine schöne Tasse Tee, das hilft immer.«
Ann rannte fast aus dem Zimmer. Sie ging allerdings nicht in die Küche, sondern hastete blindlings durch das Haus, ohne zu wissen, wo sie hinwollte. Schließlich fand sie sich in der Wäschekammer wieder, wo sie verständnislos auf die Lattenbretter mit den Stapeln gefalteter Laken starrte, die den Duft getrockneter Zitronenmelisse verströmten.
Sie nahm den Brief aus der Tasche und strich ihn glatt. Ihre Hand zitterte so sehr, dass die aufgeklebten Worte auf und ab hüpften, als führten sie einen verrückten Tanz auf. Sie hatte das Gefühl, als hielte sie etwas Obszönes in der Hand. Etwas Schmutziges, in dem es von ekligen, unsichtbaren Lebewesen wimmelte.
Sie lief ins Bad und riss den Brief in tausend Stücke; dann tat sie das gleiche mit dem Briefumschlag. Die Fetzen warf sie in die Toilette und zog immer wieder ab, bis auch der letzte Schnipsel verschwunden war.
Dann zog sie sich aus, stellte sich unter die Dusche und schrubbte sich kräftig von oben bis unten mit dem Waschhandschuh ab. Selbst Ohren und Nase sowie der Zwischenraum unter ihren Fingernägeln wurden einer Reinigung unterzogen. Sie wusch sich die Haare und spülte sie immer wieder aus. Als sie mit allem fertig war, faltete sie ihren Morgenrock und alles, was sie sonst noch angehabt hatte, als sie den Brief öffnete, zusammen, stopfte es in einen Müllsack und warf es weg.
Im Nachhinein war Ann überrascht, dass sie den nächsten Schritt des anonymen Schreibers nicht vorhergesehen hatte. Schließlich hatte sie genug Thriller gesehen und reichlich Krimis gelesen. Trotzdem war der Anruf für sie ein absoluter Schock. Fast so schlimm wie der Brief selbst.
Er schien durch einen Klumpen Watte zu sprechen. Es war ein akzentfreies, halb ersticktes Gemurmel. Er wollte Geld. Eintausend Pfund, oder er würde zur Polizei gehen. Er erklärte ihr genau, wann und wo sie es deponieren sollte. Ann protestierte zaghaft, wandte ein, er würde ihr nicht genügend Zeit geben, doch er knallte den Hörer auf.
Sie dachte keinen Augenblick daran, nicht zu zahlen, und das nicht nur aus Angst vor Entdeckung. Von Schuldgefühlen verzehrt kam Ann zu dem Schluss, dass sie und nur sie allein für diese ganze Tragödie verantwortlich war. Sie hatte Carlotta aus dem Haus gejagt, das Mädchen bis an den Fluss verfolgt und trotz aller Bemühungen nicht daran hindern können hineinzuspringen.
Ann hatte sogar angefangen, sich zu fragen, wie ernsthaft diese Bemühungen überhaupt gewesen waren. Sie erinnerte sich, wie Carlotta ihr weinend vorwarf: »Sie haben mich nie hier haben wollen, Sie sind doch nur froh, wenn Sie mich los sind«, und wusste, das war die Wahrheit. Carlottas Verzweiflung und ihre Entschlossenheit zu springen hatten ihr große Kraft verliehen, aber wenn Ann sich nur ein bisschen mehr bemüht hätte ... Und dann dieser Schrei: »Nicht stoßen ...« Sie hatte Carlotta nicht gestoßen. Oder etwa doch?
Doch egal, was genau geschehen war, es führte kein Weg daran vorbei, dass sie an der ganzen Sache schuld war. Also war es nur richtig, dass sie zahlen
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