Inspector Jury besucht alte Damen
eine Frau. Auf alle Fälle jemand, der nicht im entferntesten so groß war wie Simon Lean.»
«Und der war absolut nicht in der Verfassung zu fahren», sagte Melrose trocken.
29
J URY GING durch Eibenhecken auf das Sommerhaus zu. Das Auto hatte er in der Parkbucht abgestellt, die für jedermann so leicht zugänglich war, der zu dem Grundstück wollte. Es war der naheliegende und direkte Zugang zum Sommerhaus, wenn einem die Binsen und Pfützen auf dem Weg nichts ausmachten, denn das Häuschen lag gut hundert Meter von der Straße entfernt.
Auf einer Steinbank dicht beim Sommerhaus saß ein Wachtmeister von der Northants-Polizei und war so in die Skandale und Skandälchen von Private Eye vertieft, daß er Jury fast nicht bemerkte. Dann fuhr er auf und sagte sehr autoritär: «Tut mir leid, Sir, aber hier darf niemand rein. Ihren Namen würde ich mir auch gern notieren.» Und schon hatte er ein kleines Spiralheft aus seiner Brusttasche gezogen.
Jury zeigte ihm seinen Dienstausweis, und ehe sich der Mann überschwenglich entschuldigen konnte, sagte er: «Ich wollte nur mal einen Blick in das Sommerhaus werfen. Alles ruhig?»
«Eine Grabesruhe, Sir.»
Was hatte er hier nur finden wollen?
Alles war unverändert, abgesehen von einer weißen Katze, die von dem kleinen Bootsanleger hinter den Terrassentüren anspaziert kam. Auf dem See dümpelten das blaue und das grüne Boot. Die weiße Katze strich um die Möbel, sie fühlte sich hier offenbar zu Hause und ignorierte Jury, als wäre er nur ein weiterer Lehnstuhl; dann setzte sie sich mitten ins Zimmer und putzte sich.
Hatte er etwa damit gerechnet, in der Skizze, die am Kaminsims lehnte, Züge der Frau wiederzuerkennen, mit der er gestern gesprochen hatte? Spuren einer jüngeren Hannah Lean? Er setzte sich auf das Sofa und sah sie an, beobachtete sie fast, als könne er sie dazu bringen, daß sie mit der Wimper, mit dem Mundwinkel zuckte. Sie tat es nicht. Er zog die Fotos, die der Polizeiarzt von der Toten gemacht hatte, aus dem braunen Umschlag, obwohl er wußte, daß sie ihm nicht weiterhelfen würden. Die Gesichter von Toten sehen genauso unfertig aus wie zaghafte Porträtskizzen.
Jury steckte die Fotos wieder in den Umschlag und stand auf. Schnurrend strich ihm die weiße Katze um die Beine.
Sie folgte ihm den Pfad entlang und über die kleine Brücke; vielleicht fand sie ja Gefallen an dieser Änderung ihrer täglichen Runde.
Nach London brauchte Jury Hecken, Gärten, Luft, die frisch nach Regen duftete, und das klar fließende Flüßchen hier. Er genoß den Spaziergang zum Haupthaus.
Und doch ertappte er sich dabei, daß er die Gärten absuchte, die Wege vorsichtig, beinahe verstohlen überquerte und fast erschrocken stehenblieb, als er Schritte auf dem breiteren Gartenweg knirschen hörte. Er drückte sich in eine schmale Lücke zwischen Eibenhecken. Ein Mann, von Arthritis gezeichnet, humpelte schwerfällig vorbei, der alte Gärtner mit seiner Gartenschere.
Die Katze schoß ihm zwischen den Beinen durch und stürzte sich auf die kupferfarbenen Bodenbedecker. Sie jagte etwas Flüchtigem nach, das für Jury unsichtbar war.
Das machte ihm zu schaffen: Woher kam dieser Impuls, Umwege zu gehen, ihr nicht von Angesicht zu Angesicht zu begegnen? Er setzte sich auf eine der grob gezimmerten Bänke, die man längs der Pergola aufgestellt hatte. Das Boskett wirkte wie ein geheimer Garten, auf einer Seite von einer langen Eibenhecke abgeschlossen, auf der anderen von Bäumen und Büschen, Glyzinien und anderen Blumen mit duftigen, malvenfarbenen Blüten. Hier wuchsen sicherlich ein Dutzend rosa, kupferfarbene und violette Blumenarten, deren Namen Jury nicht kannte. Von der Pergola regnete es Rosen.
Die weiße Katze tauchte in einer Wolke von winzigen weißen Blüten unter. Am anderen Ende des Gartens stand vor der Hecke die Steinfigur einer Frau mit einer Schale oder einem Korb im Arm, dessen Vertiefung als Vogelbad diente. Ein Fink zwitscherte, und schon schoß die Katze aus ihrer Deckung auf die Steinfigur zu.
Er zog den Beduinen und den Kristallvogel aus der Tasche. Ein leichtes, diese Gegenstände von Watermeadows in die Narrow Street zu bringen, damit die Fingerabdrücke auch ja übereinstimmten. Wie vorausschauend von Simon Lean. Pratt konnte natürlich recht haben; verschiedene Mörder, verschiedene Motive. Man konnte sich indes Diane Demorney nur schwerlich so tobend vor Eifersucht oder so wahrhaft liebend vorstellen, daß sie einen Menschen
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