Inspector Jury besucht alte Damen
loses Jackett in bräunlichem Orange und hatte einen regenbogenfarbenen Schal um den Hals geschlungen. Ein wenig übertrieben vielleicht für einen normalen Maitag, aber durchaus angemessen, wenn es etwas zu feiern gab. «Anscheinend hat sich Superintendent Pratt Joanna die Wahnsinnige schon vorgenommen. Mein Mitgefühl hat sie – aber ich kann mir, offen gestanden, nicht vorstellen, daß sie es mit Simon Lean, diesem Schwerenöter, allzu arg getrieben hat.» Als er das Bein überschlug, zeigte er einen mit lavendelfarbener Seide bekleideten Knöchel über einem Gucci-Schuh. Auch er schien sich schon für Italien in Schale geworfen zu haben. «Da hocken wir nun alle herum, sehen entsetzlich besorgt aus, drehen an den Perlenketten und zupfen am Schnurrbart wie in einem schlechten Salonstück, in dem der Kriminalbeamte uns mit dem Beweismaterial konfrontiert und alles aufklärt. Wo steckt übrigens unser Freund, Superintendent Richard Jury? Gewißlich dräut die große Enthüllungsszene.»
Jurys Eintreten zeitigte die gegenteilige Wirkung. Binnen zwei Minuten hatte sich die «Hammerschmiede» geleert, geblieben waren nur Melrose, Trueblood und Vivian.
«Seit Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags die Straße hinunterging, haben sich nie wieder so viele Leute so schnell dünngemacht», sagte Melrose.
«Hallo, Vivian», sagte Jury lächelnd. «Bereit für den großen Tag?»
Sie ordnete das Seidentuch um ihren Hals neu und lächelte unsicher. «Großer Tag?» wiederholte sie in fragendem Ton.
Worauf Marshall sagte: «Erdrosseln Sie sich bloß nicht, Vivilein.» Und zu Jury gewandt: «Und, haben Sie Theo Wrenn Browne schon dingfest gemacht? Auf was warten Sie noch?»
«Er liegt immer noch im Rennen. Aber Sie wissen ja, wir können ihm einfach nicht nachweisen, daß es das Summerston-Buch ist.»
«Sie meinen, das Trueblood-Buch.» Er seufzte. «Kommen Sie, Viv, wir lunchen bei Jean-Michael und lassen die beiden allein weiterwursteln. Ich bin eine Viertelstunde lang berühmt gewesen; wenn in Begleitung der Frau Mama und der lieben Schwestern erst der liebe Graf D. aufkreuzt, sind Sie an der Reihe –»
«Franco!» fuhr sie ihn an. «Und er kommt allein.»
Jury konnte sie im Hinausgehen murmeln hören: «Das möchte ich ihm jedenfalls geraten haben.»
Melrose saß da und betrachtete die Fotos. Die Geschichte, die Jury zuvor Pratt erzählt hatte, kannte er inzwischen auch.
Er schüttelte den Kopf. «Wollen Sie mir etwa weismachen, daß wir es nicht nur mit einem Doppelmord zu tun haben, sondern daß die Frau auf Watermeadows zu allem Überfluß nicht Hannah Lean ist?»
«Von ‹Überfluß› kann keine Rede sein. Darum haben sich Simon Lean und Sadie Diver schließlich zum Mord an seiner Frau zusammengetan.»
«Und etwas ist schiefgelaufen.»
«Das kann man wohl sagen. Die Wohnung in London wurde von jemandem bewohnt, der entweder zwanghaft ordentlich und sauber war, oder von jemandem, der keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte.»
Melrose dachte einen Augenblick darüber nach. «Sie meinen also, es hängt alles davon ab, daß wir die Identität feststellen. Und die Zeugen widersprechen sich.»
«Tommy Diver sagt, die Frau in Wapping ist nicht seine Schwester; der Onkel sagt, sie ist es. Keiner ist sich sicher.» Er deutete mit dem Kopf auf die Fotos. «Sehen Sie selbst. Übrigens kommt Wiggins heute nachmittag mit Tommy hierher. Ich möchte, daß er Watermeadows besucht.» Und Jury setzte grimmig hinzu: «Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn über Nacht aufzunehmen?»
«Natürlich nicht», sagte Melrose geistesabwesend. Dann schlug er sich mit der Hand an die Stirn. «Einfach nicht zu fassen.»
«Was?»
«Wir haben vielleicht unsere eigene Zeugin. Ich werde verrückt. Agatha. Erinnern Sie sich nicht? Sie hat doch gesagt, daß sie ‹fast mit Hannah Lean geluncht› hätte. Hat sie zufällig in Northampton getroffen, sagt sie. Großer Gott.»
Mit einem Lächeln reichte Jury Melrose die Fotos von Hannah Lean und Sadie Diver. «Sie ist Ihre Zeugin. Machen Sie sich an sie ran. Und auch an Diane Demorney. Vielleicht bekommen Sie aus der etwas heraus.»
«Wie schön für mich. Weshalb sollte Hannah Lean eigentlich an jenem Abend nach London gefahren sein?»
«Vielleicht hatte ihr Mann sie unter irgendeinem Vorwand dorthin gelockt.» Jury überlegte einen Augenblick. «Ruby Firth war an jenem Abend im ‹Stadt Ramsgate›. Dabei fällt mir ein: der letzte Fahrer des Jaguars war höchstwahrscheinlich
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