Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
blieb ihm im Halse stecken, und sein Zorn begann zu verrauchen. Er brachte ein Lächeln zuwege, nach dem ihm nicht zumute war. «Das letzte Ufer» , sagte er. Sie blickte ihn erstaunt an. «‹Waltzing Matilda› war die Titelmelodie. Vielleicht kommt es Ihnen deswegen so traurig vor.» Offenbar begriff sie nicht. «Aber Sie sind noch zu jung, Sie können sich nicht daran erinnern. Muß so vor dreißig Jahren gewesen sein. Ava Gardner hat mitgespielt.» Jury wußte nicht, warum er noch immer auf der Schwelle stand und über alte Filme quasselte, aber er spürte, daß sie eine Stütze brauchte. Und sie schien seine Gedanken gelesen zu haben, schien sie wortwörtlich zu nehmen, denn sie schwankte leicht, unsicher, als sei sie mit den hohen Hacken ihrer Schuhe in einem unsichtbaren Läufer hängengeblieben.
    Er redete weiter, denn er wußte, daß der Klang seiner Stimme ihr Halt gab. «Die Atomwolke hatte Australien noch nicht erreicht. Es war der letzte sichere Ort auf der ganzen Welt – für ein Weilchen.» Er konnte ihren Zwiespalt spüren. Wenn er sie weiter mit Fragen über Roy Marsh bedrängte, würde sich die Spannung vielleicht lösen, und er würde die gewünschte Antwort erhalten. Es konnte aber auch ganz anders ausgehen; möglicherweise verspielte er jede Chance, irgendwann ihr Vertrauen zu gewinnen. Obwohl sie beide auf den festen, gewachsten Dielen standen, kam es ihm vor, als wären sie Seereisende auf einem wild tanzenden Schiff.
    «Ich habe immer gefunden, daß es ein schrecklich trauriges Lied ist, weil sie am Ende doch alle sterben müssen. Gute Nacht, Ruby.»
    Als er im Hinausgehen noch einen Blick durch die Tür warf, sah er, daß sie sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Da stand sie, so steif, elegant und dunkel wie die trübe Lampe, die einen leicht grünlichen Schimmer auf ihr Haar warf.
     
     
    Jury entdeckte ihn hinter einem Berg von Nasi Goreng mit Huhn.
    In Pennyfields reihte sich ein chinesisches Restaurant ans andere, genauso wie fast überall in Limehouse. Die meisten waren sehr gut, keins davon schick. Der «Rubinrote Drache» wirkte da noch besonders aufgedonnert. Von der Decke hingen ein paar rot- und goldgeränderte Papierschlösser und Pagoden und drehten sich bei der Tür sacht im Luftzug; ein Wandbild zeigte einen schlitzäugigen und eigenartigerweise bärtigen roten Drachen, dessen Farbe Jury an getrocknetes Blut denken ließ; es gab Trennwände aus Reispapier und schwarzlackierte Wandschirme. Wie die anderen Restaurants in Limehouse, so erkannte Jury am Publikum, war aber auch der «Rubinrote Drache» ein Familienrestaurant. Die Speisekarte solide, die Bedienung bierernst, das Essen gut.
    Tommy hatte sich schon durch eine Phalanx von Vorspeisen gefuttert; er saß vor den Resten von Frühlingsrollen, Wan-Tan-Suppe und Garnelenbällchen. Jury bestellte Tee.
    «Da, probieren Sie mal», sagte Tommy und schob ihm den Teller hin.
    «Nein, danke.» Jury mußte lächeln, als Tommy sein Festmahl mit einem verstohlenen, ziemlich schuldbewußten Blick musterte. «Wo wir wohnen, gibt es keinen Chinesen, nicht einmal einen Imbiß.» Er schob den Reis bekümmert auf dem Teller herum. «Sie sind sicher hergekommen, weil Sie mich zurückbringen wollen.»
    «Zurückbringen? Das hört sich an, als wärst du ein Ausreißer. Nein, ich wollte mich nur noch ein bißchen mit dir unterhalten. Ruby hat mir gesagt, wo ich dich finden kann.»
    «Sie hat mir das Geld gegeben. Nett von ihr; sie war es wohl leid, daß ich so bei ihr rumhing.» Kleinlaut faßte er nach seiner Mundharmonika, die aus seiner Jackentasche hervorschaute. «Ich kenne eben nicht so viele Lieder. Meine Lieblingslieder sind ‹Waltzing Matilda› und eins, das ich selber gemacht habe. Das geht den Leuten auf den Geist.» Er seufzte. Dann lächelte er. «Geht sicher auch Sid auf den Geist. Er redet immer auf mich ein, daß ich im Maschinenraum spielen soll.» Sein Kopf ruhte jetzt auf einer zur Faust geballten Hand, die andere hantierte mit der Gabel herum, das seltene chinesische Festmahl schien vergessen. «Aber – also Tante Glad und Onkel John, die sagen, ich muß wenigstens die mittlere Reife machen. Wozu soll das gut sein, wenn man doch bloß auf Schiffen arbeiten will? Immer reden sie auf mich ein, daß Sadie eine richtig gute Ausbildung bei den Barmherzigen Schwestern gekriegt hat; als ob ihr das was genützt hätte –»
    Erschrocken blickte er Jury an. Ihm war wohl jäh eingefallen, daß man ihm die gute Ausbildung seiner

Weitere Kostenlose Bücher