Inspector Jury besucht alte Damen
Schwester nie wieder unter die Nase reiben würde.
Er hatte sie seit ihrer Zeit im Kloster nicht mehr gesehen. «Zum Schieflachen, Sadie, wie sie den Kopf ganz in so einen schwarzen Schal gewickelt hatte. Sie haben sie rasiert. Die Haare, meine ich. Sind doch kahl, die Nonnen. Scheußlich.» In dem Blick, den er Jury zuwarf, lag etwas Trotziges, so als wollte er hierüber Streit anfangen.
«Glaube ich nicht. Ich meine, daß sie kahl sind. Und wenn deine Schwester Novizin war, dann haben sie ihr Haar in Ruhe gelassen. Es vielleicht ein wenig kürzer geschnitten.» Roy Marsh hatte ihm alle Informationen gegeben, die die Themse-Polizei zusammengetragen hatte. Daß das Mädchen in ein Kloster eingetreten war, wollte für Jury überhaupt nicht ins Bild passen. Er stellte sie sich als ziemlich rotzig, sogar aufdringlich und nicht unselbstsüchtig vor.
«Kommt mir trotzdem falsch vor. Vieles an der Kirche kommt einem doch falsch vor.» Er musterte Jury, wollte sehen, wie der diese zunehmend ketzerischen Urteile aufnahm. Als Jury nicht anbiß, wirkte er erleichtert und verlor auf der Stelle das Interesse daran.
Der bierernste Kellner setzte eine Platte mit einem Berg süßsaurem Schweinefleisch unter einem Überzug aus leuchtendroter Orangensoße vor ihm ab, und Tommy erzählte aus seiner Kindheit – sie schien weit zurückzuliegen –, als Sadie noch seine beste und manchmal auch seine einzige Spielgefährtin gewesen war. Da hatte es alles gegeben: ein Kinderhaus im Garten, heimliche Picknicks, dunkle Höhlen, Schuleschwänzen … eben alles, was man in den idyllischen Beschreibungen liest oder im Fernsehen sieht – die Art Kindheit, die niemand wirklich gehabt hat, die aber, wenn man sich daran erinnert, im Dunst eines ewigen Sommers verschwimmt.
Jury meinte zu verstehen, warum Tommy so schnell gesagt hatte, die Tote sei nicht seine Schwester: sie hatten nie so aneinander gehangen, wie er jetzt vorgab. Der Altersunterschied hatte dabei gewiß eine Rolle gespielt. Vorstellbar war es schon, daß sich eine Siebzehnjährige so um ihren kleinen Bruder kümmerte, wie Tommy es sich einredete, doch er bezweifelte, daß Sadie Diver der Typ dafür gewesen war. Monate, Jahre hatte sie verstreichen lassen, ohne den Versuch zu machen, ihn zu sehen (sie hatte ihm nur einen Schnappschuß geschickt). Daß sie ihn dann doch kommen ließ (wahrscheinlich bedauerte sie es), hatte vermutlich nur den Zweck gehabt, den Mulhollands die Botschaft zu übermitteln, daß es ihr besser ging, als es ihnen jemals gehen würde.
«Dann war Sadie wohl nicht recht zur Nonne geeignet, was, Tommy? Das ruhige und kontemplative Leben war nichts für sie, hmm?»
Tommy hatte sich schon halbwegs durch seinen Reisberg gearbeitet und schaufelte nun Schweinefleisch und Ananas oben drauf. «Die? Da kann ich nur lachen. Sadie ruhig und … dingsda …»
«Wieso hatte sie denn dann auf einmal religiöse Anwandlungen?»
«Die haben Tante Glad und Onkel John ihr eingeredet. Sie fanden, sie wäre … na ja, ein bißchen wild. War doch nur für ein Jahr.»
«Um da hineinzukommen, muß man ganz schön schlau sein. Und Prüfungen muß man auch machen. Das ist nichts für jemanden, der wild ist.»
Tommy lächelte über seine Teetasse hinweg. «Sadie konnte einfach alles. Wenn Sie mich fragen, sie hat’s nur gemacht, weil sie kein gutes Haar an ihr gelassen haben. An dem jedenfalls, was noch davon da war», setzte er dunkel hinzu.
Die Patina von guter Erziehung, die Reserviertheit, die nonnenhafte Ruhe, all das konnte sich Sadie Diver angeeignet haben. Es hörte sich so an, als sei sie gewitzt gewesen und nicht totzukriegen. Roy Marsh zufolge waren auch die Mulhollands ziemlich widerstandsfähig. Hart wie Stahl , war sein Eindruck. Er hatte gesagt, der Junge habe auch nicht allzu glücklich gewirkt, nachdem er mit ihnen telefoniert hatte.
Während Tommy weiter sein Garn über Sadie spann, wie sie vier Hunde und drei Katzen gepflegt hat, formte sich in Jurys Kopf ein Plan. Da auch Tommy sich, genau wie Ruby Firth, «zur Verfügung halten» mußte … wieso eigentlich nicht? Der Junge hatte seinen Besuch in London durch eine rosarote Brille gesehen, die lag nun zerbrochen am Boden, weil die junge Frau, um die er so viele Träume gesponnen hatte, ermordet worden war. Warum sollte er zu allem Überfluß auch noch gleich nach Haus zurück, wo es weder Tee noch Gemütlichkeit gab. Im «Rubinroten Drachen» gab es wenigstens Tee. Jury sah die Mundharmonika aus
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