Inspector Jury bricht das Eis
das tust du nicht», sagte Melrose, ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzuschauen.
«Woher willst denn du das wissen?»
«Wenn du sie kennen würdest, könntest du ihren Namen richtig aussprechen: ‹Sen-Le-sche›, nicht ‹Sanktleger›. Genauso wie ‹St. John› ‹Sen-Dschon› ausgesprochen wird.»
«Das werde ich bis zum Sen-Nimmerleinstag nicht verstehen. Warum schreibt ihr eure Namen nicht so, wie sie klingen?»
Sie gab Vivian den Brief zurück und versuchte es mit einer neuen Taktik: «Warum verbringst du die Feiertage eigentlich nicht mit deinem Verlobten, Vivian. Das kommt mir denn doch höchst eigenartig vor.»
«Weil ich offen gestanden keine Lust habe, den langen Weg bis nach Venedig zu fahren, und weil ich mich offen gestanden nicht besonders gut mit seiner Familie verstehe, und …»
«Und offen gestanden», fiel ihr Melrose ins Wort, «mag Graf Dracula Weihnachten nicht. Überall diese Kreuze …»
Vivians Gesicht wurde feuerrot. «Würdest du bitte aufhören, ihn ‹Graf Dracula› zu nennen!» Wütend knallte sie ihr Glas auf den Tisch, daß das Ale überschwappte. Melrose fand dies einen recht beachtlichen Zornausbruch für die sanfte Vivian; allerdings schien sie während der Monate in Italien ein wenig südländisches Temperament abbekommen zu haben.
«Dracula war doch kein Italiener, Melrose, er war Transsylvanier», sagte Trueblood.
«Aber er ist viel herumgekommen.»
«Ach, laßt mich in Ruhe!» Vivian drehte den beiden den Rücken zu.
Mit zuckersüßem Lächeln fragte Trueblood: «Aber ein Graf ist er doch, nicht wahr, Vivvie?»
«Hör auf, mich Vivvie zu nennen. Ja, er ist allerdings ein Graf.»
«Ein Ausländer», sagte Agatha voller Abscheu und vergaß dabei geflissentlich, daß sie selber aus Milwaukee, Wisconsin, stammte. «Hier hätte er nichts zu melden, ob Graf oder nicht. Er ist Ausländer.»
«Das haben Italiener nun mal so an sich, liebe Tante.»
Trueblood zündete sich eine Zigarette an, die zum Farbton seines Halstuchs paßte, wedelte das Streichholz aus, als schwenke er eine Fahne, und sagte: « Ich fand ihn ganz reizend.»
Das ist nicht gerade eine Empfehlung, dachte Melrose.
Agatha war offenbar zu dem Schluß gekommen, daß Vivian entschieden zuviel Glück hatte – erst schnappte sie sich einen italienischen Grafen von den Gestaden des Mittelmeers, und dann wurde sie auch noch zu Literatenparties eingeladen. «Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: Nimm dich in acht vor Mitgiftjägern, besonders vor ausländischen.»
Melrose wußte, daß sie nichts dergleichen gesagt hatte. Agatha war im Gegenteil überglücklich gewesen, ihren Neffen außer Gefahr zu wissen. «Niemand, der Vivian kennt, würde sie nur wegen ihres Geldes heiraten», sagte er mit seinem bezauberndsten Lächeln.
«Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst deinesgleichen heiraten, Vivian –» Agatha hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, denn «ihresgleichen» saß neben ihr am Tisch und löste Kreuzworträtsel. Melrose konnte Agathas Hirn förmlich tickern hören, während es den Wert von Haus und Mobiliar, von Grund und Boden von Ardry End überschlug und zusammenrechnete wie eine Rechenmaschine. Sie war seine einzige lebende Verwandte und hatte nicht die Absicht, ihre Rechte von so ärgerlichem Zuwachs wie Ehefrauen und Kindern schmälern zu lassen.
«Andererseits wirst du ja auch älter, und der Mann scheint ein durchaus ehrbarer Italiener zu sein –» fuhr sie fort.
Als hätte sie schon eine ganze Gondel voll ehrloser Italiener kennengelernt, dachte Melrose.
«– der vermutlich Verstand genug haben wird, seinen Titel zu behalten. Ganz im Gegenteil zu gewissen anderen Leuten.»
Melrose fühlte, wie sie ihn mißbilligend ansah, während er ungerührt fünf Wörter in schneller Folge eintrug. Gleich einem Schachspieler, der mehrere Züge vorausdenkt, erkannte er mit einem Blick, wie die restlichen Lösungswörter lauten mußten. Er legte seinen Stift weg und meinte: «Sag ihm, daß er sich an seinen Titel klammern soll, wenn ihm sein Leben lieb ist, Vivian. Denk daran, wie großartig sich dein Name ausnehmen wird: Contessa Giovanni …»
Vivian sah so gequält drein, daß er innehielt und das Thema wechselte. Stirnrunzelnd wandte er sich an Agatha. «Woher weißt du übrigens von dieser Reise? Wir haben das Ganze selber noch kaum besprochen.»
«Ich war gerade im Haus–»
In seinem Haus, nicht in ihrem strohgedeckten Cottage in der Plague Alley.
«– und habe mit Martha
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