Inspector Jury bricht das Eis
vierten Stuhl entgegen. «Setzen Sie sich zu uns.»
Lady Agatha Ardry, die, abgesehen von sich selbst und dem neuen Vikar, fast niemanden in Long Piddleton leiden konnte, hegte einen ganz besonderen Widerwillen gegen Marshall Trueblood. Ihrem Neffen Melrose gegenüber hatte sie mehrfach die Meinung geäußert, Trueblood sollte geteert und gefedert und dann aus der Stadt gejagt werden.
Melrose hatte dem entgegengehalten, daß so etwas vielleicht in ihrer Heimat Amerika üblich sei, während hierzulande die Narrenfreiheit Tradition habe. Sein bedeutungsvoller Blick, so hoffte er, sprach Bände.
«Nein, danke vielmals – wie ich sehe, ist wieder diese Withersby hier.» Sie baute sich vor dem Tisch auf. «Was soll denn dieser Unsinn von einer Reise in nördliche Gefilde? Weihnachten steht doch vor der Tür.»
Und wenn es nicht Weihnachten wäre, wäre es Ostern oder Pfingsten, dachte Melrose. Ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzusehen, sagte er: «Da muß ich dir ausnahmsweise zustimmen, Tante. Es ist blanker Unsinn.» Er ignorierte Vivians finsteren Blick.
«Hab ich mir’s doch gedacht.» Die Nachricht schien sie zu erleichtern, denn sie ließ sich aufatmend auf den angebotenen Stuhl plumpsen.
Aber als Melrose fortfuhr: «Es ist blanker Unsinn, aber die Reise wird dennoch stattfinden», klappte ihr das Kinn herunter.
Die Worte hatten sie offenbar ebenso ratlos wie durstig gemacht. Sie bestellte einen doppelten Sherry bei Dick Scroggs. Der hob den sorgfältig gescheitelten und pomadisierten Kopf, sah, wer gerufen hatte, und las weiter in der Zeitung, die vor ihm auf dem Tresen lag.
«Ich verstehe das alles nicht. Du verreist doch sonst nie über die Feiertage. Ein eingefleischter Junggeselle wie du geht doch nicht so leicht von seinen Gewohnheiten ab … Mr. Scroggs !»rief sie ein zweites Mal.
«Junggeselle vielleicht, aber kein eingefleischter. Landpartien gehören zwar nicht gerade zu meinen Gewohnheiten, aber da es Vivian ist, die mich gebeten hat …» Er sah auf und schenkte seiner Tante ein allerliebstes Lächeln, das sie zur Weißglut trieb. Sie hatte schon immer gefürchtet, daß sich zwischen Melrose und Vivian etwas anbahnen könnte. Daß Vivian mit einem anderen verlobt war, trug wenig zu Agathas Beruhigung bei, denn dieser andere war in Italien. Und Italien war weit. «Ein Wochenende auf dem Land. So eine Art Stelldichein für Kunst- und Kulturschaffende. Vivian dachte wohl, geteiltes Leid ist halbes Leid, und hat mir eine Einladung verschafft.»
Unterdessen brachte Dick Scroggs den Sherry. Die «liebe» Tante Agatha machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu bedanken, geschweige denn, den Drink zu bezahlen. Das überließ sie stets anderen. Statt dessen nahm sie nun Vivian aufs Korn. «Warum? Plant ist doch gar nicht künstlerisch tätig. Wer hat dich denn eingeladen?»
Vivian zog einen Brief aus ihrer Handtasche. Das Papier war cremefarben, die Schrift prangte in erhabenen Lettern. «Charles Seaingham. Der Kritiker. Sie kennen ihn sicher, er schreibt Artikel über Kunst und Literatur, die in allen möglichen Zeitungen erscheinen.»
Allzuviel konnte er nicht geschrieben haben, denn Agatha hatte nie von dem Mann gehört.
«Ich habe ihn auf der kleinen Party kennengelernt, die mein Verleger gab, als das Buch mit meinen Gedichten herauskam …»
Agatha, die es sich nie nehmen ließ, ein Haar in der Suppe zu finden, schnaubte verächtlich. «Ach, diese unverkäuflichen Dinger! Du solltest Liebesromane schreiben wie Barbara Cartland, Vivian.» Sie nahm ihr den Brief aus der Hand und las ihn durch die Lorgnette, die sie gelegentlich benutzte, um sich ein würdevolles und imposantes Aussehen zu geben.
Ob mit oder ohne Lorgnette, dachte Melrose, es dürfte ihr schwerfallen, nicht den Eindruck eines groben Klotzes zu machen. Und wie sie so schwer und massiv in ihrem dunkelbraunen Tweedkostüm dasaß, erinnerte sie ihn tatsächlich an einen dicken Baumstumpf. Ihr Haar hätte ein ausgezeichnetes Vogelnest abgegeben.
«MacQuade? Wer ist das?»
«Ein Schriftsteller. Ausgezeichnet mit dem …»
Agatha interessierte weder, was er geschrieben hatte, noch womit er ausgezeichnet worden war. «Parmenger. Noch nie gehört», sagte sie und ließ den Mann damit zur Nichtigkeit schrumpfen.
«Ein Maler.»
«Wahrscheinlich Nackedeis. Oder große farbige Vierecke. Solches Zeug hab ich nie verstanden.» Sie runzelte die Stirn. «Aber dieser Name. St. Leger. Lady St. Leger … die kenn ich doch …»
«Nein,
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