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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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hindurch und baute sich vor der Tür zum Gang auf. Er leckte seine bereits makellos saubere Pfote, bis Racer nahe genug war, daß er zu einem Tritt ausholen konnte, dem Cyril mit einem graziösen Satz auf Fionas Schreibtisch entging, wo er sich gelassen wieder seiner Pfote widmete.
     
     
    «Nur noch zwei Einkaufstage bis Weihnachten, und ich spür genau, daß ich mir was eingefangen habe», sagte Detective Sergeant Alfred Wiggins, dessen untere Gesichtshälfte mit einem Taschentuch maskiert war, als sei der bakteriologische Krieg ausgebrochen. «Ich muß noch Geschenke besorgen.»
    Sie hatten den Wagen in einer sichelförmigen Seitenstraße der King’s Road geparkt und waren auf den Sloane Square zumarschiert, als die glitzernd dekorierten Schaufenster von Peter Jones Wiggins daran erinnerten, daß er noch keine Geschenke gekauft hatte. In einem Schaufenster sah man gesichtslose Puppen, deren Körper in silbrig und schwarz schimmernden Kleidern steckten, was offenbar der diesjährigen Wintermode entsprach. Im nächsten hell erleuchteten Fenster war eine Krippe aufgebaut worden, die – wie in so schicken Stadtteilen wie Chelsea und Kensington nicht anders zu erwarten – um einiges prächtiger aussah als das ärmliche Ensemble im «Jerusalem Inn». Die Heiligen Drei Könige trugen fließende Gewänder aus Goldlamé und seidigem Stoff, als wären sie nicht gekommen, um dem Kind in der Krippe zu huldigen, sondern als rasteten sie hier auf dem Weg zu einem Rendezvous mit den gesichtslosen Mädchen im Nebenfenster.
    «Es ist für meine Verwandten in Manchester – alles in allem haben sie wohl ein Dutzend kleiner Rangen. Ach, ich weiß nie so recht, was ich Kindern eigentlich schenken soll. Geht’s Ihnen nicht genauso – ich meine, wo Sie doch auch keine haben?» Wiggins steckte sich eine Halspastille in den Mund. «Jedenfalls bin ich froh, daß die Schaufenster auch eine gewisse religiöse Note haben.» Marias Porzellangesicht sah aus, als sei es in Peter Jones’ Kosmetikabteilung geschminkt worden.
    «Wenn Sie’s so nennen wollen», sagte Jury.
    «Es ist ein bißchen übertrieben, nicht? Schauen Sie mal, wie die Geschenke der Heiligen Drei Könige eingepackt sind. Man könnte meinen, sie hätten sich in Bethlehem noch schnell Geschenkpapier und Schleifchen besorgt.» Wiggins nieste.
    «Ein wenig von der Myrrhe würde Ihnen guttun», sagte Jury.
    Die Erwähnung jedes ihm unbekannten Heilmittels ließ Wiggins aufhorchen. «Myrrhe? Ich hab immer gedacht, das wäre irgend so ein Parfumzeug. Sie wissen doch, wie allergisch ich gegen Parfums bin.» Seine Stimme klang vorwurfsvoll.
    Jury wußte es. Wiggins war gegen fast alles außer Fish and Chips allergisch. «Ich glaube, Myrrhe wird auch als Medizin verwendet. Früher jedenfalls. Gut gegen Erkältungen. Und Grippe.» Jury hatte keine Ahnung, wozu das Zeug gut war, aber die Vorstellung, daß die Drei Weisen so vernünftig gewesen waren, eine Art Heilmittel mitzubringen, schien Wiggins ein wenig aufzuheitern. Jury merkte, daß er die Krippe mit neu erwachtem Interesse betrachtete: Er trat näher an das Fenster heran und war höchstens ein kleines bißchen traurig darüber, daß dort drinnen irgendein Säftchen, ein Amulett, ein Mittel gegen seine vielfältigen Gebrechen verborgen sein könnte, das für ihn unerreichbar war.
    «Glauben Sie daran, Sir?» fragte Wiggins.
    Vielleicht meinte er die Myrrhe, vielleicht Gott. Jury dachte an Pater Rourke, der sein Leben damit verbrachte, solche Fragen zu beantworten. Und er grübelte darüber nach, ob der Dekorateur mit seinen Arrangements aus Flitterkram und neongrellen Heiligenscheinen nicht auch unbewußt eine große Hoffnungslosigkeit ausgedrückt hatte, indem er die Partyszene direkt neben den Drei Weisen angesiedelt hatte, als seien diese Teil eines einzigen, kitschigen Blendwerks.
    Als Jury nicht antwortete, fügte Wiggins hinzu: «Man kommt ins Grübeln, nicht wahr?»
    Jury blieb stumm. Er empfand plötzlich den Verlust von etwas Unersetzbarem, als sei ein Dieb auf leisen Sohlen aus der Dunkelheit herangeschlichen und habe ihm unbemerkt gestohlen, was immer es auch gewesen sein mochte, um sich dann über den Platz mit seinen bunten Lichterketten davonzumachen.

8
    Das hübsche Hausmädchen , das ihnen am Eaton Place öffnete, trug eine adrette flaschengrüne Uniform mit weißen Manschetten, die ebenso blitzsauber wirkte wie der Türklopfer aus Messing. Aber die Augen des Mädchens waren rotgeweint, ihr Gesicht blaß

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