Inspector Jury bricht das Eis
Ihnen nicht leid tun. Ich kannte sie kaum.» Ein schreckliches Gefühl, sie verraten zu haben, überkam ihn, während seine Augen abwesend das Spiel verfolgten, das gerade zu Ende ging. Clive hatte haushoch gewonnen; sein Gegner gab entnervt auf.
«Was ist mit Parmenger?»
«Er ist Helen Mintons Cousin. Wir haben zwei Tage gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Anscheinend ist er nicht gerade der gesellige Typ.»
«Ha! Darauf trink ich einen, wenn Sie mich einladen. Übrigens ist Parmenger der einzige, der seine Sinne noch alle beisammen hat: Er ist nicht zum Vergnügen in der Abtei, sondern beruflich. Er hat Grace Seaingham porträtiert. Allerdings finde ich es ziemlich erstaunlich, daß er dafür die lange Reise in den kalten Norden in Kauf genommen hat. Parmenger ist nämlich ganz und gar nicht der Typ, der anderen Gefälligkeiten erweist. Und außerdem würden Sie bei diesem Sauwetter nicht extra nach Spinney Abbey fahren, wenn Sie Parmenger lediglich bitten wollten, die Leiche seiner Cousine zu identifizieren. Was ist also los?»
Jury sah Clive dabei zu, wie er die Kugeln für ein neues Spiel zurechtlegte. «Sie wurde vergiftet.» Er starrte auf die drei Kugeln, die Clive auf die Feldlinie gelegt hatte – gelb, braun, grün. «Was trinken Sie?»
Melrose sah ihn einen Moment lang schweigend an. «Das Übliche.»
Während Hornsby ein Old Peculier und ein Newcastle Ale zapfte, bemerkte Jury, daß die in Lumpen eingewickelte Puppe inzwischen wieder in die Krippe gelegt worden war. Der Anblick machte ihn unsagbar traurig; er dachte an Mrs. Wasserman und Pater Rourke.
«Kann man die Abtei nur auf Skiern erreichen?» fragte er und reichte Melrose das Bier.
«Lustig wär’s ja. Nein, man kommt auch mit dem Geländewagen durch, aber auf Skiern geht’s am schnellsten. Und es ist die einzige Fluchtmöglichkeit, wenn man» – er deutete auf Tommy Whittaker – «sich einem so lasterhaften Zeitvertreib wie Pool nur heimlich hingeben darf.»
«Snooker», wies Jury ihn zurecht.
«Für mich ist das ein und dasselbe.»
«Snooker ist komplizierter, soviel ich weiß.» Er sah, daß Clive sein Queue neu einkreidete. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde Clive jetzt gegen den Jungen spielen, der mit Melrose gekommen war. Er wollte sich gerade nach Whittaker erkundigen, als er Plant sagen hörte: «… die Straße wird bestimmt bald wieder frei sein; ich werde also demnächst mein Auto startklar machen und Agatha und Viv …» Melrose verstummte und begutachtete wieder die Spitze seiner Zigarre.
«Was tut Vivian denn hier? Ich dachte, sie hätte diesen italienischen Herzog geheiratet.»
«Er ist ein Graf. Und gondelt nach wie vor als Junggeselle durch Venedig. Ich habe den Verdacht, Vivian hat kalte Füße bekommen. Oder besser: nasse Füße.»
Jury sagte nur: «Aha.» Seine letzte flüchtige Begegnung mit Vivian hatte in Stratford-upon-Avon stattgefunden. Sie war damals mit dem anderen, diesem Italiener, zusammengewesen. Als er nun von der veränderten Situation erfuhr, wallten alte Gefühle mit einer Heftigkeit in ihm hoch, die ihn überraschte. Zum Teufel, warum konnte er nicht in Ruhe seinen Angelegenheiten nachgehen, statt andauernd über Leute zu stolpern, die dann doch bloß wieder aus seinem Leben verschwanden? Er beschloß, nicht weiter darüber nachzudenken, und deutete auf den zweiten Tisch. «Wird der Junge jetzt gegen Clive spielen?»
«Welchen Clive?»
«Den Sieger der letzten Runde. Wieso begleiten Sie ihn eigentlich auf seinen Skiwanderungen? Und was sollte das Geflachse von wegen ‹Herr Marquis› vorhin, bevor er Sie ans Schienbein getreten hat?»
«Ihnen entgeht aber auch nichts, was? Ich will den Jungen nur ein wenig aufmuntern.» Melrose seufzte schicksalsergeben. «Er tut mir leid, obwohl ich mir eigentlich eher selbst leid tun sollte. Es ist wahrlich kein Vergnügen, in diesem kalten Gemäuer festzusitzen und sich anhören zu müssen, wie Tom auf Klavier und Oboe dilettiert. Aber es ist nicht seine Schuld. Es ist die Tante …»
«Jetzt verstehe ich.»
«Tja. Ich muß allerdings sagen, daß seine Tante ihn wirklich gern hat. Das Dumme ist nur, daß sie ihn nicht nach seiner Fasson selig werden läßt: sie hat Angst, daß er so wird wie seine Eltern – ein Playboy, der sich ständig in Kenia rumtreibt, seine Frau betrügt, Orgien feiert, und was solche Typen sonst noch so anstellen. Der Kleine ist der Marquis von Meares, und sie will, daß er seinem Namen Ehre macht.»
«Armer Kerl, er
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