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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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stehen wir unter Arrest?»
    «Wer weiß», sagte Cullen, knüllte das Kaugummipapier zusammen und warf es zielsicher in den Papierkorb. «Es ist nur so: Als ihr Arzt wollen Sie doch sicher, daß sie am Leben bleibt. Ich meine, das ist doch Ihre Aufgabe, nicht?»
    Sir George stieß einen Seufzer aus. «Mrs. Seainghams Gesundheitszustand ist zugegebenermaßen nicht gut.»
    «Tja, aber er könnte sich noch um einiges verschlechtern, wenn nämlich noch einmal jemand auf sie schießt.»
    «Ich bin ein wenig verwirrt, Sergeant. Ich dachte, es sei auf Miss Sleight geschossen worden.» Der süffisante Unterton in der Stimme sollte zeigen, was er von der Polizei aus Northumbria hielt, die nicht einmal den Namen eines Opfers behalten konnte.
    Cullen lehnte sich zurück und legte die Füße auf Charles Seainghams blankpolierten Schreibtisch. «Oh, aber das war doch nur ein Versehen. Der Schuß galt eigentlich Mrs. Seaingham. Das ist der entscheidende Punkt an der ganzen Sache.» Er konzentrierte sich auf seinen Kaugummi.
     
    Jury wippte im Gleichtakt mit Cullens Kinnladen auf seinem Stuhl und lächelte versonnen in sich hinein. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Sir George und sagte mit trockener Kehle: «Grace? Warum in aller Welt sollte jemand Grace Seaingham ermorden wollen?»
    «Das frage ich Sie. Nach allem, was ich über Mrs. Sleight gehört habe, war sie nicht gerade der Typ, der nachts zum Beten in die Kirche geht. Und sie trug Grace Seainghams Cape. Ein Schuß, im Dunkeln abgegeben … Wenn Sie also etwas über Mrs. Seaingham wissen, das für uns interessant sein könnte, dann raus mit der Sprache. Sie könnten uns damit eine Menge Scherereien ersparen. Stimmt’s, Superintendent?»
    Einschüchterungsversuche dieser Art waren nicht Jurys Stil, und während er durchdringend von Sir George gemustert wurde, sagte er kurz angebunden: «Stimmt. Aber ich würde Sir George lieber eine ganz andere Frage stellen. Erinnern Sie sich an einen gewissen Doktor Lamson? Er lebte im 19. Jahrhundert.»
    Sir George lachte gekünstelt. «Ganz so alt bin ich nun auch wieder nicht, Superintendent.»
    Jury lächelte ihm mit entwaffnender Freundlichkeit zu. «Gewiß nicht, Sir George. Hat dieser Lamson damals nicht einen jungen Burschen vergiftet …?»
    «Ja, richtig», fiel ihm Sir George ins Wort. «Mit Akonit. Aconitum napellus », fügte er hinzu, als seine Verblüffung über die Belesenheit dieses Polizisten sich gelegt hatte. «Damals war es fast unmöglich, eine Akonitvergiftung nachzuweisen. Lamson erzählte seinem Opfer, es sei ein Medi…» Sir George verstummte erschrocken.
    «Ein Medikament, ganz recht. Ein berühmt-berüchtigter Fall. Das Gift wurde in einer Gelatinekapsel verabreicht, nicht wahr?»
    Sir George bedachte Jury mit einem wütenden Blick und erhob sich langsam. «Sie wollen doch nicht etwa andeuten, die Medikamente, die ich Mrs. Seaingham verabreiche …» Er wurde puterrot, ballte die Fäuste und beugte sich zu Jury hinab. «Was erlauben Sie sich! Mrs. Seaingham fühlt sich seit ein paar Monaten nicht wohl. Sie hat in dieser Zeit zusehends abgenommen, und ich hatte zunächst den Verdacht, es handele sich um Magersucht. Diese Diagnose hätte allerdings völlig dem Bild widersprochen, das ich mir in der Zeit unserer Bekanntschaft von Grace gemacht habe.»
    «Sie leidet also unter Appetitlosigkeit?» fragte Jury.
    Sir George warf ihm einen scharfen Blick zu. «Richtig. Ansonsten ist ihr nur zu entlocken, daß sie sich irgendwie krank fühlt.»
    «Sicherlich würde eine Blutuntersuchung …»
    Sir George stemmte die Arme in die Hüften. In dieser Feldwebelhaltung machte er einen imposanten Eindruck. «Grace will sich nicht untersuchen lassen. Obwohl ich mit allem Nachdruck darauf bestanden habe. Sie meint, mit Gottes Hilfe wird es schon wieder gut.» Er steckte sich erregt die Pfeife in den Mund, sichtlich erzürnt darüber, daß Grace sich lieber auf Gottes Ratschluß verließ als auf seinen.
    «Sicher, Gott wird’s schon richten. Alles hat ja mal ein Ende», bemerkte Cullen ironisch.

19
    Grace Seaingham war ihm ein Rätsel.
    Sie saßen vor ihrem Porträt im Arbeitszimmer. Parmenger war es gelungen, die kühle, glatte Oberfläche zu durchdringen und die so gegensätzlichen Eigenschaften dieser Frau in seinem Bild festzuhalten: ihre frostige Schönheit und ihre warme Ausstrahlung, ihre Empfindsamkeit und ihre innere Stärke, ihre schwärmerische Ader und ihre nüchterne Art, die Dinge zu

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