Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
mit diesem Satz war Hannah aufgewachsen. Sie selbst hatte diesen unmöglichen Ausdruck immer weit von sich gewiesen, aber als Bridget Cook mit einer Viertelstunde Verspätung im La Capuccella auftauchte, fiel er ihr wieder ein.
Bridget war eine große kräftige Frau, der man gern abnahm, dass sie auch schwerere körperliche Arbeit in der Landwirtschaft hatte leisten können als nur Obstpflücken. Früher hatte sie einmal ein hübsches Gesicht gehabt, das einem klassisch-strengen Schönheitsideal entsprach, aber inzwischen hatten die Zeit und vielleicht auch menschliche Misshandlungen tiefe Spuren darauf hinterlassen. Es war das beschädigte Gesicht einer antiken griechischen Statue, die lange Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Hannah fühlte sich an eine amerikanische Ureinwohnerin erinnert, die man früher, laut ihrer Mutter, als Rothaut bezeichnet hätte. Bei diesem Ausdruck hatte sich ihre politisch korrekte Seele geschüttelt.
Bridget Cook ging auf die sechzig zu, sah aber trotz ihrer verblichenen Schönheit älter aus. Und doch war ihr Lebensgefährte eifersüchtig auf einen ehemaligen Liebhaber, den sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Hannah konnte nur noch staunen. Zu ihrer Überraschung streckte ihr Bridget die rechte Hand hin und schüttelte sie heftig. »Hallo. Wie geht’s? Ich bin Bridget Cook – oder Williams, wie mein Freund will, dass ich sage.«
Sie musste sich nicht auch noch ihrerseits der Eitelkeit dieses Mannes fügen, dachte Hannah. »Miss Cook, ich möchte gern mit Ihnen über Samuel Miller sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Sicher. Warum nicht? Eigentlich wollten wir beide heiraten, er und ich, aber er hat mich sitzen lassen. Schätze, er hat kalte Füße bekommen. Ich bin vorher schon mal verheiratet gewesen, aber er noch nie. Na ja, das ist jetzt alles Schnee von gestern.«
Nicht ganz, dachte Hannah. »Miss Cook, bevor wir weiterreden, muss ich Ihnen mitteilen, dass Samuel Miller tot ist. Mein Beileid.«
Sie schwieg. Ihre klaren maskulinen Gesichtszüge blieben starr. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und sagte: »Wissen Sie, er hat Gedichte geschrieben, und sogar ein ganzes Buch. Sam war nicht blöd.«
Hannah registrierte den abgeschwächten Ausdruck. »Das wusste ich nicht.«
»Nein, das wussten die Leute nicht. Für mich hat er ein Gedicht geschrieben, aber Williams hat es gefunden und zerrissen. Möchten Sie ’nen Kaffee?«
»Ich hole einen«, sagte Hannah.
An der Theke warf sie einen Blick nach hinten und sah, wie die große Frau den Kopf in die Hände legte. Am Mittelfinger ihrer linken Hand trug sie einen Ehering. Hatte der eifersüchtige Liebhaber auch dagegen etwas? Hannah trug die zwei Kaffeetassen zu ihrem Tisch zurück.
»Warum hat er damals die Tredowns besucht, als sie alle in Flagford waren?«
»Keine Ahnung. Hat er?«
»Er hatte drei Jahre vorher bei ihnen gearbeitet, als er zum letzten Mal zur Obsternte nach Flagford gekommen war. Ein Mann namens Grimble hatte die Pflücker von seinem Grundstück vertrieben, und Samuel Miller ist zu den Tredowns gegangen. Sie haben ihm einen Job gegeben. Er hat ihr Auto repariert und es anschließend gefahren.«
»Meinen Sie den, der Bücher schreibt? Der mit dem Buch, das irgendwie Himmel und noch was heißt? Das gerade verfilmt wird?«
»Genau den.«
»Der hat in Flagford gewohnt?«
»Tut er immer noch«, meinte Hannah. »Samuel …« Mit diesem Namen hatte sie Probleme. Er passte nicht zu dem, was sie hinter Dusty vermutet hatte, aber für einen Schriftsteller und Dichter klang es nicht so merkwürdig. »Samuel – hat er gewusst, dass es sich um diesen Tredown gehandelt hat? Ich meine, wenn er Schriftsteller war, hat er deshalb Tredown aufgesucht?«
»Fragen Sie mich nicht. Ich habe nie gewusst, dass Tredown dort wohnt. Sam hat nie etwas gesagt.«
»Ich frage mich, ob er etwas mitgenommen hat, was er selbst geschrieben hatte. Wollte er es Tredown zeigen?«
Bridget zeigte wenig Interesse an diesen möglichen Zusammenhängen. »Wenn ja, dann hab ich’s nie gesehen. Wie ist er gestorben?«
Wie gern hätte Hannah gesagt, das sei etwas, was Bridget Cook nicht wissen müsse, aber das konnte sie nicht machen. »Man hat ihn umgebracht. Er wurde erschossen.« Rasch fügte sie hinzu: »Der Mann, der ihn erschossen hat, ist tot.« Sie ließ die Worte einsickern und meinte dann: »Miss Cook, wissen Sie, ob Sam ein Messer bei sich getragen hat?«
»Nur um sich zu schützen. Die Typen, mit
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