Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
denen er herumhing – bei denen brauchte man ein Messer. Er hat es nie benutzt, da bin ich mir ganz sicher.«
»Können Sie sich noch an das letzte Mal erinnern, als Sie ihn gesehen haben?«
»Das werde ich nie vergessen«, sagte Bridget Cook. »Drei Wochen danach wollten wir heiraten, alles war arrangiert. Das ging nicht nur von mir aus; er hat es wirklich gewollt. Das sage ich Ihnen nur, weil die Leute … na ja, sie haben Sachen erzählt, es hinge damit zusammen, dass Sam so viel jünger war als ich. Egal. Jedenfalls waren wir an dem Tag mit dem Pflücken fertig. Wir hatten im Wohnwagen eine Dusche, aber die war kaputt, und Sam wollte sie eigentlich richten, aber er hat es nie gemacht. Er kam rein und meinte, er hätte was gefunden, wo er sich ein bisschen waschen könnte. Ein leeres Haus auf einem Grundstück, wo er vor drei Jahren kampiert hatte. Wenn er wiederkäme, hat er gemeint, würden wir ins Pub gehen, und dann hat er gesagt: ›Tatatata, das ist für dich!‹, und hat mir diesen Ring gegeben.«
»Den Ring, den Sie tragen?«
Bridget nickte. »Ich hatte ihm auch etwas geschenkt. Ich hatte ihm ein T-Shirt mit seinem Namen drauf gekauft.«
Endlich! Hannah spürte, wie sich ihre Schultern entspannten. Sie zog das Foto aus ihrer Handtasche. »War es das?«
Das verunstaltete Gesicht erbleichte. Bridget Cook reagierte noch heftiger als zuvor auf die Nachricht von Millers Tod. »O Gott.« Mit einem schwieligen Zeigefinger berührte sie die glänzende Oberfläche des Fotos.
»Es tut mir leid, Miss Cook, wenn ich Sie damit schockiert habe.«
»Nein, nein. Alles okay. Ich habe es – das T-Shirt mit seinem Namen drauf – im Oxfam-Laden in Myringham gesehen. Michelle und ich hatten einen Tag frei gehabt. ›Schau dir das an‹, hab ich zu ihr gesagt, ›das muss ich unbedingt für Sam haben.‹ Und sie hat gemeint: ›Meinst du, dass er das Ding da drauf mag?‹ Sie meinte den Skorpion, aber ich hab gesagt: ›Er hat sich einen Skorpion auf die Schulter tätowieren lassen, aber vor allem wird ihm sein Name auf dem Shirt gefallen.‹ Und ich hatte recht, so war es. Er hat es angezogen, als er wegging, um sich zu waschen. Ich habe ihn nie wieder gesehen.« Ihre Stimme war vom unterdrückten Weinen ganz rau geworden. Sie blickte auf ihre linke Hand. »Komisch, dass er mir den gab, als er mich verlassen hat.« Doch dann dämmerte es ihr. »Aber das hat er ja gar nicht, stimmt’s? Er hat sich umbringen lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »William meint, es sei mein Ehering, sonst hätte er ihn mir schon weggenommen.«
Nachdenklich ging Hannah heim, zu Bal. Wie lange würde diese Frau noch bei einem Mann bleiben, der sie schlug und das Gedicht zerstörte, das ein anderer Mann für sie geschrieben hatte? Als sie dann Bal in den Armen hielt, sah sie zufällig ihr Bild im Spiegel, ein junges, gut aussehendes Paar. Alles nur eine Sache der Umstände, dachte sie.
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Das Hospiz, Owen Tredowns künftiges Zuhause bis zu seiner letzten Ruhestätte, lag in Pomfret. Zwischen dem von Bäumen umrahmten Gebäude und der Pomfret High Street befand sich ein ziemlich großer, künstlicher Teich, auf dem Stockenten und ein Paar Moorhühner schwammen. Binsen und blaublättrige üppige Hostas säumten das Ufer. Donaldson fuhr am Hospiz vorbei, wendete und parkte vor dem Eingangstor. Dadurch hatte Wexford fünf Minuten Zeit, um die großzügigen Fenster, den sorgfältig geplanten Garten und die unterschiedlichsten Zugangsmöglichkeiten für behinderte Besucher zu bewundern.
Ihm gefiel das Konzept, beziehungsweise die Idee eines Hospizes. Vor der Fahrt hier heraus hatte er das Wort im Lexikon nachgeschlagen. In der ersten Definition, die er dafür gefunden hatte, stand, es sei »ein Haus, das Pilgern Herberge und Bewirtung bot.« Die Vorstellung einer Herberge fand er ansprechend. Trotzdem blieb die Frage, wie man sich fühlen musste, wenn man ein Haus betrat, von dem man genau wusste, dass man es nie mehr lebendig verlassen würde. Man wüsste, hier sei nun der letzte Ort auf der Welt, an dem man sein Haupt zur Ruhe betten würde, das Vorzimmer zum Krematorium. Er ließ Donaldson weiterfahren.
Gewiss hatten die Zeitungen längst die Nachrufe auf Tredown vorbereitet. Ein paar von ihnen würden auf diese vorgefertigten Artikel zugunsten der Abschiedsworte eines persönlichen Freundes verzichten. Man würde ein Foto von Tredown abdrucken, das vermutlich ein Vierteljahrhundert alt war und den Autor zeigte, als er noch jung
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