Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
war und gut aussah. In der letzten Zeile hieße es dann: »Er hinterlässt seine Frau Maeve.«
Der Regen hatte aufgehört. Wieder einmal war es ein schöner und klarer Tag geworden, wenn auch kalt, aber das musste es im November nun mal sein. Die Sonne schien wie im Sommer, nur der Dunst fehlte. Greg stand im Vorgarten von Mrs. McNeils Haus und fegte Laub vom Weg. Kaum sah er Wexford kommen, zog er seine meergrünen Gummihandschuhe aus und lief herbei, um die Wagentür zu öffnen. Wie ein Türsteher in einem Luxushotel, dachte Wexford. Gregs weißes T-Shirt hätte jeder Waschpulverwerbung Ehre gemacht. Es war strahlend weiß wie frisch gefallener Schnee, und seine Jeans waren so eng, dass seine Aussicht auf eine Vaterschaft dadurch vielleicht für immer dahin war. Er geleitete den Chief Inspector ziemlich förmlich ins Haus, rief laut: »Reeny, Schatz, dein Gast ist da«, und erkundigte sich bei Wexford, was er trinken wolle.
Irene McNeil war wie verwandelt. Wexford hätte sie nicht wiedererkannt, wenn er sie außerhalb ihrer gewohnten Umgebung getroffen hätte. Obwohl sie mit einem Gerichtsverfahren wegen verschiedener schwerer Vergehen rechnen musste, sah sie zehn Jahre jünger und glücklicher aus als bisher. Noch immer hatte sie die Beine auf einen Hocker gebettet, aber sie trug feine Strümpfe, und ihre Füße steckten in Pumps. Sie war frisch frisiert – hatte Greg auch noch dafür eine Begabung? – und trug einen hübschen schwarzen Rock zu einer Seidenbluse. Sie schenkte Wexford ein Lächeln, wie er es noch selten von ihr bekommen hatte, und hielt ihm eine Hand mit frisch lackierten Nägeln hin.
»Mrs. McNeil, ich möchte mich mit Ihnen erneut über den … äh, den Eindringling unterhalten, der sich in Mr. Grimbles Haus zu schaffen gemacht hat«, sagte er, nachdem Greg ihm Tee und für Irene McNeil ein Glas gebracht hatte, dessen Inhalt wie Wasser auf Eis mit einer Scheibe Zitrone aussah, aber vermutlich eher ein Gin Tonic war. »Er hieß Samuel Miller, das wissen wir jetzt. Ich möchte, dass Sie sich gedanklich in den September vor acht Jahren zurückbegeben und mir etwas erklären. Sie und Ihr Mann hatten seine Leiche vom Bad in den Keller geschafft. Haben Sie in den darauffolgenden Tagen darüber gesprochen? Haben Sie über die Situation diskutiert? Hat sonst jemand aus der Nachbarschaft diesen Mann erwähnt? Oder nach ihm gefragt?«
Sie nahm von dem Teller, den Greg gebracht hatte, einen Schokokeks, legte ihn wieder hin und entschied sich stattdessen für einen Keks mit Kokosglasur. »Kein Wort habe ich darüber verloren. Ich habe mir gedacht, je weniger man darüber spricht, umso besser. Man sollte das Ganze am besten vergessen.«
Wexford konnte nur noch staunen, allerdings weniger über sie, sondern über die Gesellschaftsschicht, in der sie sich bewegt hatte, eine Schicht, die eine derart gleichgültig-geringschätzige Haltung gegenüber dem Tod eines Menschen hervorbringen konnte. »Hat Ihr Mann mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Ronald wollte unbedingt die Leiche begraben. Er meinte, es sei nicht sicher, wenn man sie dort liegen ließe. John Grimble, oder wie der Mann eben heißt, könnte sie finden. Ich habe nur gesagt, das solle er aber nicht allein versuchen – die Leiche herumheben und begraben, meine ich. Er hat mich nicht noch einmal um Hilfe gebeten. Das wäre zu viel von mir erwartet gewesen.«
»Hat er denn versucht, die Leiche zu begraben?«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Mrs. McNeil. »Sie lag doch noch im Keller, als Sie sie gefunden haben, oder nicht? Dafür hatte Ronald nicht genug Kraft. Er war fast achtzig und nicht ganz gesund. Als wir die Leiche die Treppe hinunterschleppen mussten, hat er sich das Kreuz verrenkt. Ich behaupte bis heute, dass er sich dabei seine Hüfte kaputt gemacht hat. Dass er tags darauf einen Schlaganfall hatte, habe ich Ihnen erzählt. Für eine neue Hüfte fehlte ihm die Kraft. Er hätte die Narkose nicht überstanden.«
Das von ihr entworfene Bild glich einem grotesken Albtraum: Zwei alte und sicher unförmige Menschlein, die schlecht zu Fuß und kurzatmig sind, zerren keuchend einen Toten über eine schmale Treppe in ein unterirdisches Verlies. »Warum hatte sich Miller in diesem Haus aufgehalten? Was meinen Sie?«, wollte Wexford wissen.
»Weil er etwas zum Stehlen gesucht hat«, lautete prompt die Antwort. »Und danach wollte er sich waschen gehen. Das wäre doch auch Diebstahl gewesen, oder? Er hätte Mr. Grimbles Wasser
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