Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
mit Maeve zusammen. Ich meine, sie wird mich fahren müssen. Den Bus möchte ich nicht nehmen. Sie würden mich nicht mitnehmen, oder?«
»Leider nein, Miss Ricardo«, sagte er.
Sein Ziel lag in der entgegengesetzten Richtung, wieder in Kingsmarkham. Ruhig lag die Vorortsiedlung, von deren Sorte man rings um die Stadt viele aus dem Boden gestampft hatte, unter einem perlmuttfarbenen Himmel da, den typischen Farben eines Sonnenuntergangs im November. Ein Bewohner mähte kühn seinen Rasen, während ein anderer die letzten Rosen abschnitt, fleckige und zerzauste Spätherbstblüten. Irene McNeils Haus verbreitete jene undefinierbare Atmosphäre, die Häuser untertags ausstrahlen, wenn ihre Bewohner schlafen: ein abweisendes Schweigen, ein Innehalten.
Wexford hätte schon nach dem zweiten Klingeln aufgegeben, wenn er nicht mit Sicherheit gewusst hätte, dass jemand zu Hause war. So aber klingelte er zum dritten Mal. Leise Schritte tappten heran, und Greg öffnete. Mit Sicherheit hatte er vor fünf Minuten noch geschlafen und sich auf dem Weg zur Tür gekämmt. Sein Gesicht erinnerte an das eines Kleinkinds, das man zu früh geweckt hatte. Aber Greg gehörte nicht zu den Menschen, die sich leicht aus der Ruhe bringen ließen.
»Hi, Mr. Wexford, wie geht’s?«
Seit die Verwendung dieser hohlen Begrüßungsfloskel allgemein eingerissen war, hatte Wexford beschlossen, unter keinen Umständen darauf zu antworten. »Ich hätte gern Mrs. McNeil gesprochen.«
»O, mein Lieber, sie schläft tief und fest.«
»Dann werde ich mit Ihnen vorlieb nehmen«, meinte Wexford. »Vielleicht ist das sogar besser.«
Gregs Lächeln wurde merklich argwöhnischer. »Mit Vergnügen«, murmelte er und bat Wexford herein. Auf die Frage nach seinem vollen Namen wirkte er ziemlich verdutzt.
»Gregory Brewster-Clark«, sagte er und fügte hinzu: »Darf ich fragen, warum Sie das wissen möchten?«
»Ja, dürfen Sie.« Einen Augenblick war Wexford versucht, ihm zu erklären, dass er zwar fragen dürfe, aber nicht unbedingt eine Antwort bekäme, doch dann wurde er nachsichtig. »Vielleicht halten Sie mich für altmodisch«, erklärte er, »aber ich rede unbekannte Leute nicht gern mit dem Vornamen an.«
Greg hatte zwar offensichtlich keine Ahnung, was für ein Problem Wexford damit hatte, aber er hatte seine Antwort bekommen, was ihn wieder fröhlicher stimmte. Er tänzelte in die Küche und erkundigte sich, ob er ihm etwas anbieten dürfe. Auf Wexford wirkte er mehr wie ein Friseur als wie ein Pfleger. Er sah ihn förmlich vor sich, wie er einen Kunden mit der Schere in der Hand fragte, ob er es hinten eine Winzigkeit kürzer haben möchte.
»Ich würde gern einen Blick in die Schränke und Schubladen werfen«, sagte Wexford.
Anscheinend fand Greg an dieser Bitte nichts seltsam. Für ihn war es selbstverständlich, dass jeder Besucher, ob Mann oder Frau, das dringende Bedürfnis verspürte, Gregs Werk zu besichtigen. Alles war hübsch sauber aufgeräumt, garantiert keimfrei und roch nach Chlor, als könnte man jeden Moment einen Patienten hereinrollen, der schon in der Narkose lag und nun auf seine Operation wartete. Glücklich öffnete Greg einen Wandschrank nach dem anderen und präsentierte stapelweise passendes Porzellan und Gläserreihen. Offensichtlich wurden sämtliche Lebensmittel im Kühlschrank aufbewahrt, wenn es überhaupt welche gab. Ein Messerblock erregte Wexfords Aufmerksamkeit, aber auch hier fand sich nichts Interessantes.
Zum Glück schien Greg nicht auf die Idee zu kommen, ihn zu fragen, mit welchem Recht er Mrs. McNeils Küche durchsuchte. Wexford hatte eigentlich mit Widerstand gerechnet, bekam aber, wie er später Burden berichtete, lediglich lächelndes Einvernehmen und eine ausgezeichnete Tasse Tee kredenzt.
»Zuerst hatte ich den Messerblock inspiziert, aber alle Messer waren aus derselben Serie, mit schlichten schwarzen Griffen. Dann bat ich um einen Blick in die Schubladen. Greg wirkte nicht im Geringsten argwöhnisch. Vielleicht ist es in den Haushalten, wo er arbeitet, normal, dass Besucher die kulinarische Ausstattung unter die Lupe nehmen. Jedenfalls – kein Messer. Ich wollte von ihm wissen, ob er am Anfang, vor seiner Putzorgie, in einem Schrank oder in einer Schublade ein Messer gefunden habe, aber er hat verneint. Ich sagte, ich würde warten, bis Mrs. McNeil aufwachen würde. Ich wollte unbedingt noch einmal auf ihre Geschichte mit der Putzfrau und dem gestohlenen Messer zurückkommen. Aus
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