Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
über seine Wangen liefen Regentropfen wie Tränen. Allerdings lächelte er. »Mich hat es mittendrin erwischt. Habe mich unter einen Baum gestellt, bis es aufgehört hat. Sag ja nicht, dass mich der Blitz hätte treffen können, das weiß ich schon.«
»Es hat doch gar nicht geblitzt, oder doch?«
»Laut Aussage meines Eheweibs blitzt es bei Hagel immer.«
Wexford schenkte zwei große Gläser Rotwein ein. »Ich hatte gerade an Tredown gedacht.« Er hob sein Glas und ergänzte: »Auf Owen Tredown. Möge er ein friedliches Ende finden, und zwar bald.«
Burden hob die Augenbrauen. »Tredown. Klar«, sagte er, »aber warum jetzt?«
»Er wird nicht mehr lange leben. Irgendwie tut er mir leid. Vielleicht irre ich mich, aber ich stelle mir vor, wie er in diesem Haus liegt – gewiss, ein sehr hübsches Haus – und seine Tat bedauert. Wie er bedauert, dass er Samuel Millers Manuskript gestohlen hat. Ich glaube nämlich, dass es Millers Manuskript gewesen ist. Meiner Ansicht nach hat Miller Der erste Himmel geschrieben, oder wenigstens ein Exposé oder einen Rohentwurf dazu.«
»Dieser Grobian? Dieser Prolet mit dem Messer?« Noch nie hatte Wexford bei seinem Freund einen solchen Gesichtsausdruck gesehen, eine Mischung aus Abscheu und ungläubigem Staunen. »Claudia Ricardo hat dir doch erzählt, dass ihm die Leute aus seinen Kursen für Kreatives Schreiben laufend Manuskripte geschickt haben. Warum nicht einer von denen?«
»Mike, wirf mal einen Blick auf die Fakten. Vor elf Jahren kamen Tredown und die beiden Frauen mit den Einnahmen aus seinen Büchern mühsam über die Runden. Dazu kam noch seine kleine Lehrvergütung. Und die war sicher sehr klein. In diesem Land gibt es nicht viele Kurse für Kreatives Schreiben, und für die wenigen wird man nicht großzügig bezahlt. Denk daran, keine der Frauen hat gearbeitet. Claudia hat damit geprahlt, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie gearbeitet hat. Und dann kommt Samuel Miller daher, ein Grobian, ein Prolet, wie du es nennst. Aber kann man mit Fug und Recht annehmen, dass große Künstler – und der Autor von Der erste Himmel ist oder war ein großer populärer Künstler –, dass also solche Leute samt und sonders geachtete brave Bürger aus der Mittelschicht sind? Genet hat den Großteil seines Lebens im Gefängnis verbracht, Marlowe starb bei einer Wirtshausrauferei, Baudelaire war an Syphilis erkrankt und drogenabhängig – nein, dieses Argument zieht nicht.«
»Willst du damit sagen, Miller hätte dieses Manuskript mitgebracht, während er für ein paar Wochen nach Flagford zum Obstpflücken gefahren ist? Hat er gewusst, dass Tredown dort wohnt?«
»Warum nicht? Vielleicht hat er einen von Tredowns Kursen besucht. Die Tatsache, dass Bridget Cook nichts davon weiß, hat nichts zu bedeuten. Das Ganze hätte sich drei Jahre vor seiner Begegnung mit Bridget zugetragen. Aber auch wenn er nicht Tredowns Student, Schüler oder sonst etwas gewesen wäre, Tredowns Wohnsitz steht auf den Klappen seiner Buchumschläge, wenn auch nicht die volle Adresse. Stell dir mal vor, wie er entdeckt hat, dass in Sussex, in einem Dorf namens Flagford, Helfer für die Obsternte gesucht werden. Und dieser Ortsname hat ihn an etwas erinnert.« Er hatte Burdens Interesse geweckt, ja sogar mehr – Enthusiasmus. Das konnte er erkennen. Burden hatte jenen typischen Gesichtsausdruck – schmale Augen, grübelnder Blick, gerunzelte Augenbrauen –, immer kurz bevor er von etwas hellauf begeistert war. »Na los«, meinte Wexford, »ab hier machst du weiter.«
Burden nickte. »In Ordnung. Also, er hat dieses Buch geschrieben, oder diese Skizze, den Entwurf oder weiß der Kuckuck was, und das nimmt er nach Flagford mit, weil er hofft, dass sich ihm eine Gelegenheit zu einem Treffen mit Tredown bietet. Vermutlich hat er keine Ahnung, dass der Platz, auf dem sie ihr Lager aufschlagen, direkt neben Tredowns Haus liegt, aber das findet er bald heraus. Sie haben noch nicht lange dort kampiert, da tauchen Grimble junior und sein Kumpel Bill Runge auf und verjagen sie mit Stöcken vom Grundstück …«
»Oder mit Gewehren.«
»Oder mit Gewehren. Mit der Obsternte ist jetzt Schluss, oder die Arbeiten sind sowieso schon erledigt. Miller findet einen Weg in Tredowns Garten und bietet seine Dienste als Gärtner und Handwerker an. Und irgendwann im Laufe seiner Tätigkeit erzählt er Tredown, er habe ein Manuskript dabei. Vielleicht möchte es sich Tredown einmal ansehen. Wie klingt
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