Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
ein bisschen besser Bescheid.«
Dora legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Das kann ich verstehen. Selbst wenn man ihrer Schwester so etwas Schreckliches angetan hätte, würde sie nicht wollen, dass ihre Eltern ins Gefängnis kommen. Deshalb wird sie nichts tun, was in ihren Augen ein Verrat wäre.«
»Ganz genau«, bestätigte er. »So gut hätte ich es nicht formulieren können.«
»Und was wirst du jetzt tun, Papa?«
»Ins Bett gehen«, sagte Wexford, »und morgen werde ich mal mit Dr. Akande sprechen.«
23
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Raymond Akande war ein nigerianischer Arzt; seine Frau Laurette, die aus Sierra Leone stammte, bildete am Prinzessin-Diana-Krankenhaus in Stowerton Krankenschwestern aus. Kurz nachdem Dr. Akande Wexfords Hausarzt geworden war, identifizierte dieser ein Mordopfer als Akandes Tochter Melanie, und zwar nur aufgrund der Überlegung, wie sich Wexford später selbst vorgeworfen hatte, dass die Lebenden und die Tote schwarz waren. Akande hatte ihm rasch verziehen, bei Laurette dauerte es ein wenig länger, aber inzwischen war man befreundet.
»Die Familie steht in meiner Kartei«, sagte Akande, als ihm Wexford erklärte, weshalb er die Imrans in Verdacht hatte, »doch das heißt nicht, dass ich bei ihnen hereinspazieren und darauf bestehen kann, die Vulva eines kleinen Mädchens zu untersuchen.«
»Vermutlich brauchst du dazu einen Gerichtsbeschluss.«
»Den müsste ich erst einmal beantragen. Ich bin nicht überzeugt, ob ich überhaupt einen bekäme. Mit welcher Begründung? Dein Verdacht? Meiner? Meines Wissens handelt es sich um glückliche stabile Familienverhältnisse. Die Kinder sind gesund. Die Schwester bestreitet, dass man dem Kind etwas angetan hat. Für eine medizinische Überprüfung des Falls müsste man das Sozialamt einschalten.«
Laurette war mit einem Tablett Kaffeetassen hereingekommen. »Das Sozialamt hätte nie Anlass für einen Besuch bei den Imrans gehabt. Ich kenne Shamis. Sie wird von ihren Eltern vergöttert, und das sieht man – auch wenn sie das nicht an einer Genitalverstümmelung hindern würde. Es gibt viele Eltern, die diese Prozedur als Pflicht gegenüber ihrer Tochter ansehen und glauben, sie würden ihr damit einen Gefallen tun. Wie soll sie ohne diesen Eingriff je einen guten Ehemann finden? So denken diese Menschen. Ich hatte Glück«, sagte sie, »ich musste nicht darunter leiden. Hätte man meine Eltern nicht ermordet, wäre es mir nicht erspart geblieben. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Irgendwie hat man mich übersehen.«
»Also kann man nichts dagegen tun?«
»Das möchte ich nicht sagen«, wandte Akande rasch ein. »Man sollte unbedingt das Sozialamt darauf aufmerksam machen. Das kann ich übernehmen – vielleicht machen wir es gemeinsam, Reg. Wenn die Imrans oder einer von ihnen das nächste Mal in die Praxis kommen, kann ich mich bei ihnen taktvoll nach ihrer … also, nach ihrer Einstellung gegenüber der weiblichen Beschneidung erkundigen.«
Laurette meinte verbittert: »Über eines musst du dir klar werden: Sie müssen Shamis nicht unbedingt nach Afrika bringen; es gibt hier genug Leute, die sich bereitwillig dafür hergeben.«
Die Einladung nach Athelstan House kam unerwartet. Owen Tredowns Ehefrau und seine Exfrau hatten Wexford ohne Vorankündigung in seinem Büro aufgesucht, hatten aber nicht erkennen lassen, dass sie ihm etwas mitteilen wollten. Offensichtlich hatte ihr Besuch und die dabei ausgesprochene Einladung lediglich dem Zweck gedient, ihn und Burden zu necken, sie zu provozieren, zu nerven und zu piesacken.
Ohne Tredown hatte das Haus eine andere Ausstrahlung, kälter, geschäftsmäßiger und in gewisser Weise heller. Vielleicht lag es nur daran, dass man im Wohnzimmer die langen braunen Samtvorhänge ganz aufgezogen und zurückgebunden hatte, allerdings nicht mit Kordeln oder Bändern, sondern mit ordinären Schnüren. Früher wären im hellen Tageslicht Staub und Schmutz und Spinnweben sichtbar geworden, während jetzt alles auf einen Großputz hindeutete, eine Art herbstlichen Frühjahrsputz. Der gewaschene und polierte Kronleuchter ähnelte jetzt mehr einem Beleuchtungskörper als kopulierenden Tintenfischen. Als Wexford sich setzte, stiegen aus den Sofakissen keine Staubwolken mehr auf. Tredown war fort, und seine Besitzer hatten hinter ihm sauber gemacht, als wäre er ein schmutziges schwieriges Haustier gewesen.
Zu Anfang bekam Wexford weder Tee noch Kaffee angeboten. Er setzte sich aus freien Stücken und
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