Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Möglicherweise hielten sie auch das für einen Teil des Sozialdienstes.
Zwei Tage später als beabsichtigt betrat Wexford im Hospiz von Pomfret den Empfangsbereich und fragte nach Owen Tredown. Wie vorhergesagt, hatte er überall blaue Flecken, und sein ganzer Körper tat weh. Trotz der Stützschlinge fühlte sich sein eingegipster rechter Arm schwer und sperrig an. Im Sitzen ging es noch, solange er ein Kissen im Kreuz hatte, aber beim Laufen zuckte er fast bei jedem Schritt zusammen. Die Rückkehr ins Hospiz rief ein befremdliches Gefühl in ihm wach, und er bat Donaldson, ihn vor dem Eingang abzusetzen. Der Anblick der reichlich schmalen Durchfahrt – die Hauswand hatte dunkelrote Schrammen wie Blutflecken –, wo ihn Maeve Tredowns Auto eingeklemmt und auf die Kühlerhaube genommen hatte, machte ihm eines klar: Wenn sie einen Bruchteil langsamer gefahren wäre, hätte sie ihn ganz leicht überrollen können, statt ihn auf die Hörner zu nehmen. Hatte sie mit ihrer Tat verhindern wollen, dass er mit Tredown allein war? Oder hatte sie ihn gänzlich bei der Ermittlung ausschalten wollen?
Ein Autofahrer, der seinen Wagen als tödliche Waffe einsetzt, hat einen Vorteil: Das künftige Opfer glaubt bis zur allerletzten Minute nicht, dass ein Mitmensch es bewusst überfahren will. Er, der es eigentlich besser hätte wissen müssen, hatte es nicht geglaubt. Er hatte sie einfach für eine schlechte Fahrerin gehalten, denn damit hatte sie geprahlt.
Die Dame am Empfang wies ihm den Weg zum Lift und erklärte ihm, er würde Tredown im zweiten Stock finden, auf Zimmer vier. Erst als er den ersten Stock passiert hatte, kam er auf die Idee, dass Claudia Ricardo hier sein konnte. Tredown hatte um sein Kommen gebeten und eine Krankenschwester beschworen, Wexford anzurufen. »Er besteht darauf, dass Sie persönlich kommen«, hatte die Frau gesagt. »Ein Nein lässt er nicht gelten. Könnten Sie außerdem bitte allein kommen?« Doch davon würde sich Claudia nicht beeindrucken lassen. Hoffentlich waren die anderen Patienten auf der Station für ein ungestörtes Gespräch weit genug weg, oder man würde wenigstens die Vorhänge um Tredowns Bett zuziehen können.
Tredown lag in einem Privatzimmer am Gang zur Hauptstation. Die Tür war geschlossen. Er klopfte. Als er keine Antwort bekam, öffnete Wexford. Drinnen war es hell und luftig, aber total überhitzt. In einer blauen Glasvase standen weiße Dahlien, in einer anderen Vogelbeerzweige mit roten Früchten. Zimmer vier hatte nur einen Bewohner, und der saß, wie vor Kurzem auch Wexford im Krankenhaus, neben dem Bett in einem Stuhl, mit einer Decke über den Knien. Hier endete die Ähnlichkeit. Tredown schlief, sein Kopf war zur Seite geneigt. Als Wexford diesen Mann das letzte Mal gesehen hatte, war er zwar krank gewesen, aber jetzt, im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, war er beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Er schien keinen Fetzen Fleisch mehr am Leib zu haben, und die grüne Haut, die sich über dem scharfkantigen und doch fragilen Knochengerüst spannte, erinnerte an ein Reptil. Tredown schlief mit geschlossenem Mund, sein Gesicht wirkte im Ruhezustand friedlich, und trotz einer auszehrenden Krankheit und langem Leiden, das ihn ausgemergelt und verfärbt hatte, sah er immer noch gut aus. So hätte der aus Olivin gemeißelte Kopf eines mittelalterlichen Asketen aussehen können.
Wexford riss sich aus diesen versponnenen Fantastereien und setzte sich in den zweiten Stuhl. In Ermangelung eines Sofakissens nahm er sich von einem Stapel ein Reservekissen und stopfte es sich in den Rücken. Schon besser. Er rief sich ins Gedächtnis, dass diesmal Tredown ihn um einen Besuch gebeten und nicht Wexford sich seinerseits angekündigt hatte. Trotzdem zögerte er, ihn aufzuwecken. Vielleicht würde ja eine Krankenschwester hereinkommen und es ihm abnehmen, aber bisher ließ sich noch niemand blicken. Still war es hier, nur ab und zu hörte man draußen auf dem Gang leise, gleichmäßige Schritte.
Zehn Minuten vergingen. Draußen hörte er ein Auto kommen. Im Gang flüsterten zwei Menschen miteinander. Von einer Dahlie fiel ein Blütenblatt ab und segelte zu Boden. Tredown schlief, sein Atem ging leicht, aber unregelmäßig, und ein paarmal stieß er einen leisen Laut aus, den Wexford eher unbewusst als Schmerzlaut interpretierte. Als er das nächste Mal Schritte hörte, öffnete er die Tür und erkundigte sich bei einem Mann im weißen Overall, ob es angebracht sei, Mr.
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