Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Tredown zu wecken. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr meinte der Mann, es sei jetzt sowieso Zeit zum Aufwachen, ging ins Zimmer und murmelte Tredown sachte und ganz leise etwas ins Ohr.
Tredown regte sich. »Es war so wunderbar, ich war ganz neidisch … Nein, ich war neiderfüllt …«, stieß er hervor.
Fragend blickte der Pfleger, der ihn aufgeweckt hatte, Wexford an, der ihn seinerseits unverwandt ansah und leicht den Kopf schüttelte.
»Dann werde ich Sie mal allein lassen«, sagte er. »Er wird immer sehr müde.«
»Ich werde versuchen, ihn nicht zu erschöpfen.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich bringe ihm jetzt eine.«
Wexford bedankte sich. Er beobachtete, wie der Mann im Stuhl die Augen aufschlug. Tredown war im Schlaf heruntergerutscht und versuchte jetzt mühsam, sich hochzuziehen.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen gar nicht helfen kann«, sagte Wexford, wobei er den eingegipsten Arm hob und zu lächeln versuchte.
»Ich schaffe es schon.« Mühsam hievte sich Tredown höher auf den Stuhl hinauf. Es tat weh, ihm dabei zuzusehen, aber als er seinen Oberkörper ein paar Zentimeter höher aufgerichtet hatte, schien er zufrieden zu sein und seufzte. »Was habe ich eben gesprochen? Ich habe noch halb geschlafen.«
»Viel haben Sie nicht gesagt«, entgegnete Wexford, »nur dass etwas wunderbar wäre und Sie neidisch seien.«
»Ja.«
Eine geschlagene Minute herrschte Schweigen. Wexford las es an der Wanduhr ab und dachte, so verstreiche im Minutentakt unser ganzes Leben, aber dieser Mann müsse sich der Vergänglichkeit noch viel stärker bewusst sein als die meisten von uns. Noch eine kostbare Minute würde vergehen und noch eine und noch eine, bis wieder einer dieser letzten Tage vorbei wäre. Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davonmuss …
Plötzlich sagte Tredown mit kräftiger Stimme: »Ich liege im Sterben. Es wird nicht mehr lange dauern.« Er blickte Wexford scharf an. »Bitte, sagen Sie jetzt nichts Aufmunterndes wie ›Die Hoffnung stirbt zuletzt‹.«
»Das hatte ich nicht vor.«
»Ich möchte Ihnen etwas sagen, ehe ich sterbe. Es bedrückt mich seit elf Jahren, und dennoch … weiß ich nicht, ob ich etwas falsch gemacht habe. Wenn ja, dann war es eine Unterlassungssünde. Ich habe Dinge unterlassen, die ich hätte tun sollen. Ich habe keine Fragen gestellt, als ich sie hätte stellen sollen. Ich habe es einfach hingenommen.«
Es klopfte an der Tür. Der Pfleger kam mit einer Kanne Tee, Milch und Zucker und zwei Tassen auf einem Tablett herein. Er schenkte ein und deutete Tredown an, dass ein Keks ihm guttun würde, aber Tredown schüttelte den Kopf.
Als der Mann gegangen war, sagte er: »›Das Leben ist lediglich ein Verfahren, um verspielte Welpen in räudige alte Hunde zu verwandeln, und der Mensch nichts weiter als ein Instrument, um aus rotem Shiraz Urin zu machen.‹«
Dieses Zitat kannte Wexford nicht. »Wer hat das gesagt?«
»Isak Dinesen. Vielleicht habe ich es nicht ganz korrekt zitiert, aber wenigstens dem Sinn nach. Vermutlich kommt es Ihnen ziemlich merkwürdig vor, dass meine Frau und ich mit meiner Exfrau gemeinsam im selben Haus leben.«
»Unkonventionell«, erwiderte Wexford, »aber keineswegs merkwürdig. Das kommt öfter vor, als Sie vielleicht denken, auch wenn es normalerweise ein Ehepaar und der Exmann der Frau sind. Alleinstehende Männer finden es mühsam, sich selbst zu versorgen.«
Tredowns Lachen glich einem gebrochenen Gackern. »›Denn das Lachen der Narren ist wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen‹«, zitierte er. »Im Zitieren bin ich gut … Vielleicht ist es das Einzige, worin ich gut bin. Diesen Spruch habe ich in einem meiner Bibelromane verwendet. Ich habe sie gern geschrieben«, sagte er, »obwohl sie nie sonderlich erfolgreich waren. Dazu kamen sie ein Jahrhundert zu spät. Meine Verleger haben immer vorgeschlagen, ich sollte doch etwas anderes versuchen.«
»Was Sie auch getan haben«, warf Wexford ein, trank seinen Tee und nahm sich einen kalorienreichen gezuckerten Keks. In der folgenden Stille dachte er über das Essen nach: Was den einen Menschen krank machte, war für den anderen zwar nicht gesund, aber wenigstens lebensverlängernd. Tredown aß nichts, sondern sagte: »In gewisser Weise. Als das Manuskript kam – wissen Sie, es kam mit der Post –, habe ich das getan, was ich mit solchen Sachen immer getan habe. Ich habe die erste Seite gelesen und wollte
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