Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
dann noch das erste Kapitel lesen. Und das habe ich auch. Ich habe das erste Kapitel gelesen und das zweite und das dritte …«
»Sie konnten es nicht weglegen.«
»Sie haben es gelesen?«
»O ja. Meine Tochter spielt in dem Film mit.«
»Sie ist Sheila Wexford?«
Er nickte und sagte: »Fahren Sie fort.«
»Maeve hat es gelesen und dann Claudia. Wissen Sie, Maeve hat als meine Sekretärin fungiert. Sie hat meine sämtlichen Briefe geschrieben. Die Sache mit den E-Mails haben wir – äh, nie richtig kapiert. Beide haben das Manuskript gelesen und gemeint – äh, dass eben Potenzial darin stecken würde und der Autor eine echte Entdeckung sei und solche Sachen. Claudia meinte: ›Wirklich schade, Owen, dass du es nicht geschrieben hast.‹« Er trank einen Schluck Tee, verzog das Gesicht und stellte die Tasse wieder aufs Tablett. »Ich möchte ihnen deshalb keine Vorwürfe machen. Es war meine Schuld, einzig und allein meine Schuld – und trotzdem … Letzten Endes liefen unsere Diskussionen darauf hinaus, dass Maeve dem Autor schrieb und ihn fragte, ob er herkommen und mich besuchen könne, um sich mit mir über sein Manuskript zu unterhalten. Ihre exakten Formulierungen weiß ich nicht mehr genau; angeblich blockieren wir unerträgliche Erinnerungen – glauben Sie das?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Wexford.
»Ich schon. Ich tue es ständig. Umso mehr, seit mir dieses Manuskript … in die Hände gefallen ist.« Er stieß einen schweren Seufzer aus. »Das ist eine akkurate Beschreibung mit einem gewissen bedrohlichen Unterton. In die Hände fallen – klingt viel stärker als ›in die Hände bekommen‹. Finden Sie nicht auch? Nun ja, er hat zurückgeschrieben. Nächste Woche würde er in Sussex sein. Ob er dann kommen könne. Er kam. Er brachte ein Exemplar mit – das einzige, das er noch habe, hat er gemeint.« Tredowns Stimme verlor an Kraft und brach. »Ich habe ihm erzählt, was wir alle von dem Manuskript hielten, und habe gemeint, Teile davon müssten noch mal geschrieben und sorgfältig lektoriert werden. Er meinte, er würde noch daran arbeiten. Niemand wisse, dass er ein Buch geschrieben habe. Scheinbar bildete er sich ein, man würde ihn auslachen, wenn es bekannt würde, oder man würde ihm erklären, er solle doch etwas tun, was Geld einbrächte. Er habe es mir geschickt, weil er mich im Radio gehört hatte und für einen guten – Gott steh mir bei! – Schriftsteller hielt. Er habe schon zwei meiner Bücher gelesen.«
»Mr. Tredown, regen Sie sich nicht auf. Sie machen sich müde.«
»Und wenn schon, was wäre schon dabei?« Mit enormer Anstrengung zog sich Tredown hoch und beugte sich bedrohlich nach vorn. »Es wäre besser, wenn ich mich todmüde machen könnte. Entschuldigung, ich möchte nicht melodramatisch sein, aber das alles tut mir weh, sogar ungemein. Jedenfalls ist er dann gegangen. Ein Manuskript hat er mitgenommen, und ich – ich habe ihn nie wieder gesehen. Maeve hat mir gesagt, dass er fort sei, und zwei Tage später hat sie von ihm einen Brief bekommen, worin stand, er habe sich entschieden, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Das Schreiben sei für ihn am wichtigsten gewesen, eine Veröffentlichung interessiere ihn nicht.«
Wexford rutschte auf seinem Stuhl herum und versuchte, sich bequemer hinzusetzen. »Das haben Sie geglaubt?«
»Ich wollte es glauben, Mr. Wexford. Ich wollte es unbedingt glauben. Sehen Sie, ich dachte, wenn ich damit nach Belieben verfahren könnte, würde ich es selbst umschreiben – zwar die Story, die Figuren und die Quintessenz, also den Grundcharakter, beibehalten, aber alles noch verbessern. Ich dachte, ich könnte es verbessern und perfektionieren. Ich würde es zu meinem Buch machen.«
»Haben Sie den Brief gesehen, den er Mrs. Tredown geschrieben hat?«
»Ja. Er war getippt und unterschrieben.«
Wexford hätte nicht gedacht, dass Tredowns Gesicht noch blutleerer werden könnte, aber genau das war anscheinend passiert. Er legte den Kopf zur Seite, sackte zusammen und rutschte die Stuhlkissen hinunter.
»Stand unter dem Brief eigentlich Samuel Miller?«
Keine Antwort. Wexford stand auf und läutete. Der Pfleger kam herein, hob Tredowns Handgelenk und fühlte ihm den Puls, dann meinte er: »Sie gehen jetzt besser. Er ist sehr müde.«
»Bitte, kommen Sie morgen wieder«, flüsterte Tredown.
Der Anruf auf dem Revier wurde zu Karen Malahyde durchgestellt, aber die war nach einem Routinebesuch bei den Imrans schon gegangen, und
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