Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Hannah nahm den Anruf entgegen. Vor zwei Stunden war sie von der Befragung zweier Hospizbesucher zurückgekommen, zweier möglicher Zeugen von Maeve Tredowns Mordversuch. Leider hatten sie nichts gesehen. Es war ein langer Tag gewesen, und sie hatte noch die Heimfahrt vor sich, zu ihrer Wohnung und zu Bal. Es war trüb und düster gewesen und um achtzehn Uhr schon stockfinster. Irgendwie ahnte sie, dass dieser Anruf sie aufhalten würde, und hatte nicht die geringste Lust, ihn entgegenzunehmen, aber Burden war schon weg, Wexford war noch nicht wieder von seinem Besuch bei Tredown zurück, und Barry Vine hatte seinen Jahresurlaub angetreten. Es meldete sich eine leicht zaghafte Stimme, die fließend Englisch sprach, allerdings mit einem starken Akzent.
»Mein Name ist Iman Dirir. Ich komme gerade von der Familie Imran. Ich glaube – nein, ich weiß, dass in ihrer Wohnung demnächst etwas passiert – noch heute Abend. Ja, heute Abend. Bitte, können Sie kommen?«
»Unsere Kinderschutzbeauftragte ist nicht da«, begann Hannah und meinte dann zögernd: »Selbstverständlich werde ich kommen, jetzt gleich – aber, warten Sie. Werde ich hineinkommen?«
»Ich werde da sein«, sagte Mrs. Dirir. »Sie vertrauen mir.« Es klang bitter. »Sie werden es nie wieder tun, aber – sei’s drum.«
»Würden Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie diese Nummer anrufen und der Jugendfürsorgerin Bescheid geben? Sie heißt Sylvia Fairfax.«
Karen und Sylvia hatten zwei- bis dreimal wöchentlich in der Wohnung vorbeigeschaut. Außer einer offensichtlich glücklichen Familie, die eine somalische Verwandte in mittleren Jahren zu Gast hatte, hatten sie nichts entdeckt. Shamis hatte sich wie jedes normale europäische Kind verhalten: unbeschwert, verspielt und spitzbübisch. Wenn man sie beschnitten hätte, hätte sie nur mit von unten bis oben zusammengebundenen Beinen auf einem Stuhl sitzen können. Während Hannah mit eingeschaltetem Licht den Parkplatz des Polizeireviers verließ, rief sie sich den Kommentar zum Leben einer Frau ins Gedächtnis, den ihr Sylvia erzählt hatte. Er stammte von einer Somalierin, die sie getroffen hatte. »Eine Frau erwartet dreifaches Leid: am Tag ihrer Beschneidung, in ihrer Hochzeitsnacht und an dem Tag, an dem sie gebiert.« Schon beim bloßen Gedanken daran schüttelte es sie.
Der Wohnblock war hell erleuchtet, aber als Hannah oben an der Treppe angelangt war und den Außenflur betrat, der zur Wohnung der Imrans führte, sah sie, dass dort alles dunkel war. Es sah aus, als wäre niemand daheim. Aus dem Schatten trat Sylvia Fairfax und begrüßte sie.
»Dr. Akande ist schon unterwegs«, berichtete sie. »Ich traue mich nicht zu klingeln, aber das müssen wir auch nicht. Um Punkt neunzehn Uhr wird Iman Dirir die Tür aufmachen.«
»Und Shamis?«
»Die Frau, die sie Tantchen nennen, ist eine Beschneiderin. Iman behauptet, sie habe deren Instrumente gesehen: eine Rasierklinge, ein Messer und einige Spezialscheren.«
Hannah biss sich auf die Lippe. »Man darf gar nicht daran denken. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig.«
»Wir müssen es verhindern«, sagte Sylvia.
Sie standen vor der Wohnungstür. Von drinnen drang kein Laut heraus. In der Wohnung nebenan stand ein Fenster offen, Musik dröhnte heraus, mit wummernden regelmäßigen Bässen. Bamm, Bamm, Bamm. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet Hannah, dass es zehn Minuten vor neunzehn Uhr war.
»Um Himmels willen, wird Iman zulassen, dass sie anfängt?« überlegte sie. »Ein grässlicher Gedanke, diese Frau und das Kind.«
»Keine Ahnung. Hoffentlich nicht, andernfalls … Da kommt Dr. Akande.«
Er kam den Gang entlanggerannt. »Dazu darf es auf keinen Fall kommen«, rief er keuchend. »Wir dürfen nicht zulassen, dass man dieses Kind beschneidet, solange wir es noch verhindern können. Selbst wenn es bedeutet, dass wir sie dann nicht auf frischer Tat ertappen können.«
»In dem Moment, wenn diese Frau zur Rasierklinge greift«, sagte Hannah, »wird Iman die Tür öffnen.«
»Dann ist es zu spät. Sie ahnen ja nicht, wie schnell eine erfahrene Beschneiderin diese … diese Schandtat ausführen kann.«
»Sicher wird man Shamis doch irgendein Betäubungsmittel geben.«
»Das bezweifle ich. Sogar sehr«, sagte Akande, drückte dabei auf die Klingel und ließ den Finger liegen, sodass das Läuten deutlich die dröhnende Musik übertönte.
Die Tür flog auf. Iman Dirir rief laut und deutlich: »Kommt rein, alle, kommt rein. Hier
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