Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
dem Moment gehen, in dem ich hereinkomme?«
»Ja, muss ich. In zwei Minuten holt mich hier ein Wagen ab. Außerdem kommst du zu spät, Papi.«
»Tu ich doch immer. Unpünktlichkeit ist die Unhöflichkeit der Polizisten. Klingt nicht besonders toll, aber für bessere Wortspiele bin ich zu müde. Wann kommst du denn mal wieder her?«
»Nächste Woche. Ich habe ein Projekt laufen. Mami wird’s dir erzählen.«
Der Wagen – ein schnittiger schwarzer Schlitten – rollte heran. Der weißhaarige Fahrer hatte ein Gesicht wie der alte italienische Schauspieler Rossano Brazzi. Wexford winkte den Kindern zu, die ihm aus dem Heckfenster heraus zuwinkten, und sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Dann drehte er sich um. In seinem Vorgarten blühten immer noch jede Menge Blumen und warteten auf den Frost, der nicht kommen wollte: Eingetopfte Fuchsien, die letzten Dahlien und in der Beetumrandung Astern. Mit ihm hatte diese Pracht nichts zu tun; er rupfte kaum einmal ein Unkraut heraus oder pflanzte einen Sämling. Alles war Doras Werk. Er bedauerte, dass er seine Frau manchmal vernachlässigte, aber umso mehr schätzte er ihrer Hände Arbeit, wenn er die blühenden Pflanzen sah. In einem Pflanztrog stand ein elegantes Etwas namens Thunbergia . Er hatte sich gezwungen, diesen Namen zu lernen, auch wenn er ihn bis zum Frühjahr wieder vergessen haben würde. Dazu noch eine zweite gelbe Pflanze, die eigentlich ein Strauch mit nach Orangen duftenden Blüten war, auch wenn die Blütezeit längst vorbei war.
»Hast du Sheila gesehen?«, erkundigte sich Dora, nachdem sie sich mit der einer Ehefrau gebührenden Wertschätzung hatte küssen lassen.
»Gerade noch, um alle verschwinden zu sehen. Was ist denn dieses Projekt, das sie erwähnt hat?«
»Ach, das«, meinte Dora nebenbei. »Sie hat die Hauptrolle in dem Film bekommen, der auf dem großartigen Werk deines Freundes Tredown beruht. Das waren ihre Neuigkeiten .«
»Er ist nicht mein Freund«, konstatierte Wexford, während er sich ein Glas Rotwein und für sie ein Glas Weißwein holte. »Ich habe ihn noch nicht einmal in Augenschein genommen. Meinst du damit Der erste Himmel ?«
»Das wird’s wohl sein. Für sie ist es ganz toll. Sie soll die Göttin der Liebe und der Schönheit spielen. Ach, Reg, du hättest sie hören sollen. ›Und diese Rolle soll ich übernehmen, ich, die jahrelang in dieser Runway -Serie das Mäuschen am Empfang gespielt hat! Das nennt man doch wohl eine steile Karriere!‹«
»Wäre schön gewesen, wenn sie noch ein bisschen geblieben wäre. Wollen wir auf ihren Erfolg anstoßen?« Sie taten es, doch als Wexford Tränen in ihren Augen sah, fügte er rasch hinzu: »Also, worum geht es bei diesem Projekt wirklich? Ich denke, unsere zweite Tochter macht Projekte, aber nicht Sheila.«
»Es hat etwas mit weiblicher Beschneidung zu tun. Sie spricht allerdings von Verstümmelung weiblicher Genitalien. Es klingt entsetzlich. Sie behauptet, so etwas gäbe es auch hier.«
Wexford schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Es ist gesetzeswidrig. Vor mehreren Jahren wurde ein Gesetz verabschiedet, um zu verhindern, dass die Leute ihre Töchter wieder nach Afrika bringen, um es dort machen zu lassen. Hoffentlich kommt hier so etwas nicht vor. Glaubt Sheila, dass es Fälle gegeben hat?«
»Sie weiß es nicht. Die Leute tun so geheimnisvoll. Es gibt doch in Kingsmarkham eine ziemlich große Gruppe Somalis, und die praktizieren so etwas. Du weißt ja, sobald jemand hier in der Gegend einen Sündenbock für sämtliche sozialen Missstände braucht, müssen immer die Somalis herhalten. Ich weiß nicht einmal genau, was eine weibliche Beschneidung ist. Du vielleicht?«
»Oh ja«, sagte Wexford und überlegte, ob er entgegen Dr. Akandes Rat nicht vielleicht doch ein zweites Glas Wein bräuchte. Und dann erklärte er es ihr.
Charlie Cummings und Peter Darracott zählten immer noch zu den ungeklärten Fällen auf Peachs Liste und kamen nach wie vor für den Fund auf Grimble’s Field infrage.
»Wir müssen in Erwägung ziehen«, meinte Wexford, »dass der Mann vielleicht gar nicht hier gewohnt hat, sondern nur in der Nachbarschaft zu Besuch gewesen ist.«
Er hatte sich mit Burden zum Mittagessen in dem neuen indischen Restaurant namens Auf der Suche nach Indien verabredet. Sie hatten sich hauptsächlich deshalb dafür entschieden, weil es gleich im übernächsten Haus neben dem Polizeirevier lag. Früher war hier einmal ein Handarbeitsgeschäft gewesen,
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