Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
ich Grimble fragte, ob wir hier hereindürften, hat er diesen Untermieter mit keinem Ton erwähnt. Er hat einfach die Erlaubnis verweigert. Vermutlich aus reiner Sturheit. Er hat keine Erlaubnis bekommen, also wollte er auch uns keine erteilen.«
Bis auf einen diagonalen Sprung in der einen Fensterecke war das Glas in diesem Zimmer heil. Damon spähte in das grüne Schattenlicht hinaus, hinter dem sich das Grab samt dem Absperrband abzeichnete. Er versuchte, das Licht anzuknipsen, aber der Strom war schon längst abgeschaltet worden. Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, war eine Art vorzeitiger Dämmerung hereingebrochen, und sie mussten hier drinnen ihre Taschenlampen einschalten, deren Lichtkegel ihnen den Weg zur Küche wiesen. Beim Anblick dieses Raumes bemühte sich Burden gar nicht mehr um Gelassenheit. Es schüttelte ihn. Das dunkle, stinkende Zimmer glich mehr einer Höhle als einem Ort, an dem einmal gekocht worden war. Auf allen Oberflächen hatte sich Feuchtigkeit angesammelt, als hätten die Möbel geschwitzt.
Damons Taschenlampe strich über die einsame Anrichte, auf der ein Wäschehaufen lag: Jeans, ein oranger Anorak, ein abgetragenes T-Shirt mit einem aufgedruckten Tier oder Insekt, dazu Wollsocken und ein Paar schwarz-graue Turnschuhe.
»Anscheinend war unser Besuch nicht vergeblich«, konstatierte Burden.
»Sir, könnten diese Teile unserem Mr. Unbekannt gehören?«
»Wer weiß? Meiner Ansicht nach jedenfalls keinem von den beiden Grimbles.«
Plötzlich spürte Burden, wie ihn eine innere Anspannung fast wie ein Stromschlag durchzuckte, eine Anspannung, deren Ursache weder in der Feuchtigkeit noch in den Gerüchen lag. Das war etwas anderes, etwas Primitives, vielleicht ein Adrenalinschub, der ihn auf Kampf oder Flucht vorbereitete. Er ging mit Coleman zurück in den Flur und von da aus weiter in die Schlafzimmer, die beide mit billigen, schäbigen abgenutzten Möbelstücken vollgestopft waren. In dem einen stand ein Einzelbett, im anderen ein Doppelbett, dazu altmodische Waschständer – einer aus Bambus – mit Schale und Krug aus längst vergangenen Epochen sowie Deckenlampen mit Pergamentschirmchen. Und überall graue Staubwolken. Auf dem Doppelbett lagen immer noch zwei unbezogene gelbbraune Kopfkissen mit Speichel- und Schweißflecken, zu denen sich Spuren weiterer Körperflüssigkeiten gesellten, an die Burden nicht einmal denken wollte. Motten und Mäuse hatten eine graue Bettdecke heimgesucht und dabei die üblichen Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen.
»Darracotts Liebesnest«, murmelte Burden in sich hinein, auch wenn das Ganze vor elf Jahren, als der Vermisste Nancy Jackson hierhergebracht hatte, noch nicht so schlimm ausgesehen hatte.
Als er eine Kleiderschranktür öffnete, entfaltete sich eine neue Wolke aus Mottenkugeln und uraltem getrockneten Schweiß, der Gestank von Altmännerkleidung, die dort immer noch hing: zwei Anzüge, die vielleicht in den Vierzigerjahren neu gewesen waren, ein Sportsakko, Mäntel und Hosen. Burden klappte die Tür wieder zu. Weiter ging es ins Badezimmer, wo eine dicke graue Staubschicht den Boden bedeckte. Die Badewanne war ganz braun von Eisenflecken und die Toilettenschüssel mit Zeitungspapier voll gestopft. Am Waschbeckenrand lag ein steinhartes Stück Seife mit schwärzlichen Rissen, und auf einem durchgebogenen Holzbrett stand der Rasierpinsel eines alten Mannes, die Borsten bis auf einen kläglichen Stumpf abgenutzt.
Wieder musste Damon niesen. »Sir, nichts wie raus hier.«
»Warten Sie eine Minute. Da ist noch ein Keller.«
Eine Treppe führte ins Dunkel hinab. Burden ging voraus, schaltete dabei seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl über die Szenerie dort unten streifen. Nach einem kleinen rechteckigen Stück Boden tauchte eine Tür auf, die als einzige im ganzen Haus geschlossen war. Alle anderen standen offen. Mit einer unguten Vorahnung rief Burden: »Diesen Türknauf fassen wir besser nicht an.«
364 Tage im Jahr hatte er nie ein Taschentuch dabei. Heute war der 365. Tag, und aus unerfindlichen Gründen hatte er sich beim Hemdanziehen ein sauberes Taschentuch eingesteckt. Dieses wickelte er sich jetzt um die rechte Hand, packte den Türgriff, zog daran und riss die Tür schließlich auf. Dahinter lag unter einer Schicht Kohlestaub ein vielleicht viereinhalb Quadratmeter kleiner Raum. In der einen Ecke lag tatsächlich ein Kohlehaufen, worauf sich Burden prompt fragte, wann er das letzte Mal Kohlen gesehen
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