Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
dachte Wexford verächtlich. Als Dora den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte, machte er sie darauf aufmerksam, dass er solche Themen kaum für bestsellerverdächtig hielt, da potenzielle Leser dahinter eine Sonntagspredigt vermuten würden. Und dann fügte er noch hinzu: »Aber was verstehe ich schon davon?«
»Vermutlich so viel wie jeder andere Leser auch«, erwiderte sie. »Diese Bücher sind ja auch kein großer Erfolg gewesen. Deshalb hat er ja eine andere Richtung eingeschlagen und Der erste Himmel geschrieben. Dieses Buch hat keinerlei Ähnlichkeit mit seinen bisherigen. Keine Geschichten aus der Bibel, sondern eher eine Mischung aus griechischer Mythologie, nordischen Heldensagen und prähistorischen Tieren. Jedenfalls behauptet das Sheila. Ich habe es nicht gelesen. Es hat Tredown sehr populär gemacht.«
Wexford war nicht überzeugt. »Und jetzt werden sich noch mal Abertausende vier Stunden lang am Bildschirm damit langweilen. Mich schüttelt es schon jetzt.«
»Du wirst noch mehr tun müssen, als dir nur deine Tochter in der Titelrolle vorzustellen. Du wirst den Film ansehen müssen – mindestens einmal.«
Am nächsten Tag lag zwischen den Akten, die auf seinem Schreibtisch landeten, eine echte Rarität: ein altmodischer handgeschriebener Brief, der mit der Post gekommen war. Der Rest bestand aus dem von Mavrikian und Laxton erstellten Obduktionsbefund und dem Bericht über eine Laboruntersuchung des lila Bettlakens, in das die männliche Leiche von Grimble’s Field eingewickelt gewesen war. Kaum ist das Leben zu Ende, beginnt der Mensch zu zerfallen, während Produkte aus menschlicher Hand unter Umständen Jahrhunderte überdauern können. Im Vergleich zur Lebensdauer eines Lakens seien die elf Jahre, die dieses Laken überdauert hatte, auch wenn es jetzt teilweise zerschlissen war, wie eine Minute, lautete Wexfords leicht übertriebener Kommentar. Dieses Laken stammte aus dem Hause Marks & Spencer. Laut interner Firmenaufzeichnungen war Lila Anfang der Siebzigerjahre eine hochmodische Farbe gewesen, die man im Sortiment geführt hatte. Vermutlich war es bei seinem Einsatz als Leichentuch bereits zwanzig Jahre alt gewesen. An einem Ende, ungefähr dreißig Zentimeter oberhalb des Saums, hatte das Laken ein Loch beziehungsweise einen Riss. Vielleicht hatte man es deshalb zum Einwickeln benützt. Der Riss war ringsum ausgefranst und hatte bräunliche Flecken, die sich bei näherer Analyse als Blutflecken, mit derselben Blutgruppe wie bei dem Toten, herausstellten.
Der Obduktionsbefund lieferte ihm nur wenig neue Erkenntnisse. Dass eine der Rippen gebrochen war, wusste er schon. Keiner der Gerichtsmediziner sah darin die Todesursache, die nach wie vor nicht zu ermitteln war. Man hatte lediglich ein Skelett mit einem ganz normalen Rippenbruch gehabt, das aber genügend Material für die Prüfung lieferte, ob es sich bei der Leiche um die von Peter Darracott handelte. Wexford würde Christine Darracott hereinholen, um zu sehen, ob sie dieses Laken identifizieren konnte, aber nicht einmal das würde recht viel weiterhelfen. Von den Nachbarn schien keiner zu jener Sorte Mensch zu gehören, die lila Bettwäsche benutzte. Es handelte sich großteils um ältere Leute aus der Mittelschicht, in der die Männer irgendwelchen Berufen nachgingen, während ihre Frauen brave Hausmütterchen waren. Die würden ihre Betten weiß beziehen, oder, wenn es hoch kam, hellblau oder rosa. Eine aus dieser Gruppe hatte den Brief geschrieben, dem er sich jetzt widmete.
Bereits ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass dieser Brief nur einen Zweck hatte: ihm eventuell eine Identifizierung der Leiche zu ermöglichen. Von dieser Sorte hatte es viele gegeben, aber alle übrigen waren per E-Mail gekommen.
Bereits vor langer Zeit hatte er für sich die Erkenntnis gewonnen, dass das Internet in vieler Hinsicht mehr Probleme aufwarf, als es wert war. Anscheinend hockte das halbe Land den ganzen Tag vor dem Bildschirm und teilte der anderen Hälfte seine Gedanken und Hoffnungen und Ambitionen mit. Man gab Ratschläge, suchte Hilfe, bot Sachen zum Verkauf an und lud förmlich zum Betrug ein, indem man die Nummern von Kreditkarten einforderte und auch erhielt. Da wurden die Ängstlichen und die Einsamen in die Irre geführt und Leuten wie ihm, die ihre Jobs erledigen mussten, die Zeit gestohlen. Natürlich hatte das Internet auch seine Vorteile. Es lieferte zum Beispiel Informationen über jeden Bürger und listete mit einem Mausklick
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