Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
voraussichtlich morgen vorliegen wird. Davon hängt es ab, ob wir unsere Ermittlung eventuell ausweiten müssen. Zum Beispiel, wenn die Leiche aus dem Graben nicht Peter Darracott sein sollte. Anscheinend gibt es im Bezirk von Kingsmarkham keine weiteren Vermissten mehr beziehungsweise keine vermissten Männer, die irgendwann im Frühjahr 1995 verschwunden sind. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es sich bei der Leiche aus dem Keller um Darracott handelt. Ich werde John Grimble morgen früh vorladen und ihn wegen des zweiten Leichenfunds auf seinem Grundstück verhören. Da die Leiche im Keller unter einem Holzstapel versteckt lag, besteht momentan Grund zu der Vermutung, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt. Bisher kennen wir weder die Todesursache, noch wissen wir, ob der Tod in diesem Keller eingetreten ist. Andererseits wurde die Leiche versteckt. Irgendjemand hat sie versteckt. Und eines steht fest: Es kommt äußerst selten vor, dass man einen Menschen versteckt, der eines natürlichen Todes gestorben ist.«
Nach einem Blick in die Runde fuhr er fort: »In der Küche lagen Kleidungsstücke, die wahrscheinlich der Tote getragen hat. Zwei Aspekte sind bei diesem Fall ungewöhnlich: Der Tote war nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet, und in einer Jeanstasche befanden sich tausend Pfund in Scheinen zu zehn und zwanzig Pfund. Wahrscheinlich handelt es sich um seine Jeans, aber auch dafür steht der Nachweis noch aus. Gibt es noch Fragen?«
Die gab es immer. Hannah stellte die erste: »Guv, warum haben DI Burden und Damon das Haus betreten?«
»Eine gewisse Mrs. McNeil – sie hat früher in Borodins Haus gewohnt – hat an mich geschrieben und mir eine scheinbar absurde Geschichte von dem alten Grimble erzählt, das heißt von Grimble senior. Angeblich hatte er seinen Untermieter hinausgeworfen, aber niemand hat gesehen, dass dieser tatsächlich ausgezogen ist. Anschließend wollte uns John Grimble nicht ins Haus lassen, und weil das ein wenig dubios wirkte, haben wir uns einen Hausdurchsuchungsbefehl besorgt.«
Sie nickte und strich sich seufzend ihre langen schwarzen Haare hinter die Ohren. Barry Vine wollte wissen, ob man bereits die Medien informiert habe, und Wexford meinte, das würde er morgen früh erledigen. Sobald die Obduktionsbefunde und mit etwas Glück auch die DNA-Tests vorlägen, würde er eine Pressekonferenz abhalten.
Lyn hatte keine Frage, aber eine Anmerkung. Sie habe Theodore Borodin, der übers Wochenende hergekommen sei, einen Besuch abgestattet. Das Gespräch habe nichts Interessantes ergeben. Er habe lediglich offen sein totales Desinteresse an sämtlichen Nachbarn bekundet, von denen er anscheinend noch nicht einmal die Namen kannte.
»Als ich in mein Auto stieg, kam eine von Tredowns Ehefrauen heraus.« Diese Bemerkung löste Gelächter aus. »Ich meine, eine der beiden Mrs. Tredowns. Sie ist zu mir gekommen und hat gemeint, ob es wahr sei, dass man in diesem Haus einen Kadaver gefunden habe. Genau dieses Wort hat sie benutzt: ›Kadaver‹. Aufgrund der Absperrbänder rund ums Grundstück und des Hin und Her der Polizeifahrzeuge könne sie erkennen, dass irgendetwas passiert sei. Ich wollte von ihr wissen, wie sie darauf käme, dass es sich um einen – also, um eine Leiche handle. Da hat sie in etwa gemeint: ›Ich wusste es. Man zieht kein blau-weißes Absperrband um ein Grundstück, nur weil irgendein Flegel ein Fenster eingeworfen hat.‹ Dieser Gedanke schien sie sehr glücklich zu machen, das muss ich schon sagen. ›Mann oder Frau?‹, wollte sie wissen. Selbstverständlich habe ich es ihr nicht gesagt, sondern nur gemeint, wenn es etwas gebe, das die umliegenden Anwohner wissen müssten, würden wir sie auf dem Laufenden halten. Und dann bin ich weggefahren.«
»Gut gemacht«, meinte Wexford lachend. »Also, das wär’sdann momentan. Da wir heute Abend nichts mehr tun können, schlage ich vor, dass ihr alle nach Hause geht und euch ordentlich ausschlaft. Morgen früh werden wir neu ansetzen.« Nur Burden trödelte noch herum, obwohl alle anderen bereits gegangen waren. Deshalb sagte Wexford: »Na los, Mike, gehen wir etwas trinken. Im Nebenzimmer vom Olive. In Ordnung?«
Fast den ganzen Tag hatte es geregnet, aber jetzt hatten sich die Wolken nach Osten verzogen. Die Nacht schien schön zu werden und so mild, dass im Garten des Olive die Lampen brannten. Ein paar Gäste, hauptsächlich junge Leute, saßen mit ihren Getränken an den Tischen, wobei die
Weitere Kostenlose Bücher