Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
hatte. Es musste Jahre her sein, viele Jahre. Davor stand ein meterhoher Holzstapel aus ganzen Aststücken und kleinen Scheiten.
»Damon, ziehen Sie doch ein Holzstück heraus, geht das? Aber vorsichtig.«
Damon folgte diesem Rat und rüttelte langsam an dem längsten Teil, bis es sich löste. Dabei lockerte er auch ein paar Scheite, die prompt zu Boden fielen. Dann zog er an einem zweiten schmaleren Scheit und hörte, wie der Inspector nach Luft schnappte.
»Da liegt etwas darunter«, rief Burden.
Sie legten die Taschenlampen in ein Regal und richteten die Lichtkegel auf den Holzhaufen. In ihrem Schein wurde etwas sichtbar, was vielleicht einmal ein kleiner weißer Stofffetzen gewesen war. Vorsichtig trugen sie ein Scheit nach dem anderen ab, bis zuerst Haare auftauchten. Burden musste bei dem schwarzen groben Material an Rosshaar denken, das er einmal in einem alten Sofapolster gesehen hatte. Danach zeigte sich etwas, was vielleicht ein Stück Knochen war. Als sie den Fund unter den Holzscheiten zur Hälfte freigelegt hatten, trat Damon einen Schritt zurück, packte seine Taschenlampe und richtete den Lichtstrahl direkt nach unten. Er und Burden blickten auf die skelettierten Überreste eines Mannes herab, an denen noch graue Fleischfetzen hingen. Die Tatsache, dass er noch immer ein weißliches Unterhemd und eine Unterhose trug, stand im krassen Gegensatz zu seinem Zustand. Sein Hinterkopf war mit ziemlich langen Zottelhaaren bedeckt, die Burden als Erstes gesehen hatte. Offensichtlich hatte man den Unbekannten mit dem Gesicht voraus hinuntergeworfen, denn er hatte die Arme und Beine wie ein Seestern ausgebreitet.
Der Gestank im Haus hatte einen anderen Grund. Hier roch man nur stickige Luft und ein wenig Kohlenstaub, denn die Leiche vor ihren Augen lag schon lange hier.
»Sir, ist das der Typ, der nicht fortgegangen ist?«
»Offensichtlich«, sagte Burden, »aber weiß der Himmel, wer er ist. Eines steht jedenfalls fest. Niemand gräbt sich selbst ein Grab, genauso wenig wie sich ein Toter unter einem Holzstapel versteckt.«
8
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Wexfords ganzes Team war anwesend. Normalerweise hielt er solche Konferenzen morgens um neun Uhr ab; jetzt war es sieben Uhr abends und so finster wie um Mitternacht. Alle sahen müde aus, sogar die ganz Jungen. Burden, in steingrauem Leinensakko und Jeans, war wie immer wie aus dem Ei gepellt. Nur seine Stirn hatte Falten, und seine graumelierten Haare waren eine Idee zu kurz geschnitten. Manche Leute sehen jünger aus, wenn sie müde sind, so auch Hannah, die bleiche Wangen und schwere Lider hatte, während die glänzenden Gesichter von Lyn und Karen, die morgens stets geschminkt waren, ihre natürliche Blässe angenommen hatten. Schwarze Haut hieß es, würde im Zustand der Erschöpfung normalerweise zu einem gräulichen Ton ausbleichen, aber offensichtlich war Damon eine Ausnahme von dieser Regel. Er wirkte immer noch hellwach. Seine pechschwarzen Augen glänzten, die weißen Augäpfel schimmerten fast bläulich. Und genau das schätzte Wexford so an ihm.
Offensichtlich war er selbst der einzige Mann mit Krawatte. Barry trug unter einem dünnen Blouson ein fast bis zum Bund aufgeknöpftes Hemd, unter dem sich ein Speckröllchen abzeichnete. Bei Frauen nannte man das »Hüftgold«, wusste Wexford vom Hörensagen. Wie Hamlet hatte Barry wohl »zu viel Sonne« abbekommen. Der nicht enden wollende Sommer hatte ihm eine verbrannte Nase beschert, die vom Sattel bis zur Spitze so knallrot war wie sein krawattenloser Hals. Krawatten waren fast ganz verschwunden, zumindest hier draußen auf dem Land. Wexford kam ins Grübeln. Was trieb ihn nur dazu, immer noch diesen uralten abgetragenen speckigen Synthetikstoffstreifen zu tragen? Hemmungen? Oder mangelndes Selbstvertrauen?
Diese Grübeleien dauerten jedoch nur einen Moment, dann wandte er sich an seine Leute: »Heute Nachmittag wurde in dem verfallenen Bungalow auf Grimble’s Field eine männliche Leiche gefunden. Mike Burden und Damon Coleman haben sie bei einer routinemäßigen Hausdurchsuchung dort im Keller entdeckt. Wir wissen nicht, um wen es sich handelt, aber Carina hat den Leichnam bereits gesehen und vermutet, dass er noch nicht so lange dort liegt wie der nicht identifizierte Tote aus dem Graben. Wir können ebenfalls noch nicht sagen, ob zwischen den beiden Leichen eine Verbindung besteht. Morgen, nach der Obduktion, werden wir mehr wissen. Bezüglich Peter Darracott warten wir auf das Ergebnis des DNA-Tests, der
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