Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
den Wunsch nach Zerstörung auszulösen schien.
Er fuhr Mrs. Dirir nach Hause. Sie trug ein langes Gewand und ein Schaltuch, aber nicht den bodenlangen Jilbab wie einige andere Frauen. Unter vier Augen war sie zurückhaltend, aber als er die Rede auf seine Töchter brachte, begann sie offen zu erzählen, wie sehr sie Sheila bewundere, die sie in einer Wiederholung der Fernsehserie gesehen hatte. Sie waren fast schon bei ihrem Haus angelangt, da sagte sie ein wenig gepresst, als hätte sie sich schon seit einigen Minuten auf diese Gelegenheit vorbereitet: »Ich habe zwei Töchter. Sie sind inzwischen erwachsen. Ich möchte, dass Sie wissen, warum wir, mein Mann und ich, hierhergekommen sind, als sie noch klein waren: Wir wollten ihnen diese Verstümmelung ersparen. Ich hatte Angst, weil ich glaubte, man würde uns zurückschicken, aber da mein Mann Wissenschaftler von der Universität Kairo ist, durften wir bleiben.«
»Das freut mich«, entgegnete er. »Das freut mich sehr.«
Eine Europäerin in einem langen Kleid hätte ihren Rock geschürzt, nicht so Iman Dirir. Sie ließ ihr Gewand einfach hängen und schwebte elegant mit hoch erhobenem Kopf den Weg hinauf. Als sie die Haustür erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um, hob mit einer Bewegung, die viel graziöser war als ein Winken, die Hand und verschwand im Haus.
Zahnärztliche Unterlagen nützten nur dann etwas, wenn man wenigstens eine Ahnung hatte, wessen Leiche vor einem lag, sagte Carina Laxton zu Wexford. Ferner hatte sie gemeint, den Todeszeitpunkt bei der Leiche im Keller ein wenig näher bestimmen zu können. Inzwischen glaubte sie an acht bis zehn Jahre. Im Fall der Leiche aus dem Graben wollte sie sich auf elf Jahre festlegen. Wexford war weit entfernt davon, Burdens und Hannahs Ansicht zu übernehmen, dass es sich um die Überreste von Douglas Chadwick handeln müsse, nur weil sonst niemand in Frage kam. Erstens gab es keinen Beweis dafür, dass er unter Fremdeinwirkung eines gewaltsamen Todes gestorben war, und zweitens hatten beide Grimbles, Vater und Sohn, kein ersichtliches Motiv für Chadwicks Ermordung. Seiner Ansicht nach lieferten die Kleidungsstücke den einzigen Hinweis auf die Identität des Toten, auch wenn sich drei Tage nachdem in den überregionalen Zeitungen und im Kingsmarkham Courier ein Foto des T-Shirts erschienen war, bisher niemand gemeldet und es wiedererkannt hatte.
Dilys Hughes hatte eine DNA-Probe zum Vergleich mit der Leiche aus dem Graben abgeliefert, und diesmal würde es ein stichhaltiger Vergleich werden. Sie und Peter Darracott waren zweifellos leibliche Geschwister. Bezüglich zahnärztlicher Unterlagen gab es ein Problem: Laut Aussage von Christine Darracott war ihr Mann seit seiner Schulzeit nicht mehr beim Zahnarzt gewesen. Ihres Wissens hatte man ihm als Halbwüchsigem zwei Plomben eingesetzt und einen Zahn gezogen. Die Leiche aus dem Graben hatte drei Plomben und mehrere Zahnlücken und das noch an anderen Stellen im Gebiss, als Christine es von Peter behauptete.
Gut gemeinte E-Mails von braven Bürgern überschwemmten Wexfords Computer. Hannah las zwar alle sorgfältig, hatte es aber aufgegeben, sie auszudrucken. Erst jetzt war Wexford wirklich klar geworden, wie viele Menschen einfach verschwanden. Die Zahlen kannte er natürlich, aber Statistiken gewinnen erst dann eine tiefere Bedeutung, wenn sie Individuen betreffen, wenn hinter Menschen, die bisher nur Nummern waren, Namen, Altersangaben und konkrete Beschreibungen auftauchen. Offensichtlich ignorierten die Absender dieser E-Mails den fixen Zeitpunkt im Frühjahr 1995 und schrieben über einen Verwandten, der seit zwanzig oder seit fünf Jahren vermisst wurde. Viele erzählten Geschichten von vermissten Ehefrauen oder Freundinnen. An einem einzigen Tag las Hannah mehr als hundert davon, eine ganze Liste von Vermissten. Doch dann traf eine E-Mail von einer Frau aus Maidstone ein, die behauptete, sie würde das T-Shirt mit dem Skorpion wiedererkennen. Hannah rief sie an und fuhr anschließend zu ihr nach Maidstone.
Janet Mabledon war um die fünfzig, eine kluge, gut gekleidete Frau, die in einem Ärztezentrum als Sekretärin und Empfangsdame arbeitete. Sie hatte Wexfords E-Mail-Adresse einem Zeugenaufruf im Fernsehen entnommen. Dort hatte man auch eine Telefonnummer angegeben, aber sie hatte gedacht, man würde die Kingsmarkhamer Polizei mit Anrufen überschwemmen, während elektronische Briefe vielleicht nur selten einträfen. Jedenfalls hatte
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