Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Ohren. Auf Doras Frage hin hatte er ihr die Prozedur beschrieben und gesehen, wie sie erst blass wurde und dann rief: »Aber, Reg, das kann nicht sein! Nicht bei Millionen Frauen.« Daraufhin musste er sagen, dass es so war, ohne dass er recht viel mehr als die nackten physiologischen Fakten kannte.
Inzwischen stand Sheila auf dem Podium und sprach über die frühen Einwanderungswellen von jungen Frauen vom Horn von Afrika. Als britische Ärzte und Hebammen zur Geburtsvorbereitung Untersuchungen vornehmen mussten, hätten sie anfänglich geglaubt, sie hätten es mit einer angeborenen Missbildung zu tun, und deshalb routinemäßig einen Kaiserschnitt durchgeführt. Anschließend schilderte sie einem Publikum, das mit diesem Thema größtenteils aus eigener Erfahrung vertraut war, in groben Umrissen, wie man kleinen Mädchen manchmal noch im Babyalter mit Rasierklingen oder scharfkantigen Steinen Schamlippen und Klitoris abschnitt und die Haut über der Wunde zusammennähte. Wexford beschlich allmählich ein leichtes Gefühl von Übelkeit. Bei einem Blick durch den Raum fragte er sich, wie viele dieser Frauen als Kleinkinder oder junge Mädchen genau diese soeben geschilderte Prozedur erleiden hatten müssen.
In der Reihe hinter ihm saß, fünf oder sechs Plätze entfernt, die junge Kellnerin Matea, die Burden so bewundert hatte. Schon bei dem Gedanken, dass sie das alles höchstwahrscheinlich mitgemacht hatte, schüttelte es ihn. Eigentlich hätte ihm dieser Eingriff bei einem schönen jungen Mädchen nicht schlimmer unter die Haut gehen dürfen als bei einem unscheinbaren Mauerblümchen, das wusste er genau und hatte deshalb auch Gewissensbisse. Diese Prozedur war empörend, egal wie das Opfer aussah. Es folgten noch mehr Reden. Eine Frau berichtete über eine Konferenz in Kenia zu diesem Thema, an der sie teilgenommen hatte, eine andere erörterte Möglichkeiten, wie man diesen Brauch hier unterbinden könne. Dann war der Redenteil beendet, und man bat das Publikum, Fragen zu stellen. In den hinteren Reihen hob eine ältere Frau die Hand. Angesichts ihrer blondierten Haare und der mit Bräunungscreme getönten Haut hieß ihre Heimat eindeutig eher Sewingbury als Somalia. Sie wollte wissen, ob es nicht falsch sei, sich in die uralten Traditionen einer Volksgruppe einzumischen. Sheilas Antwort gefiel Wexford.
»Hätten Sie das auch über die verkrüppelten Lotosfüße in China gesagt? Das Einmischen in uralte Traditionen hat dem ein Ende gesetzt. Vielleicht wird es dadurch eines Tages auch so weit kommen, dass man den Frauen im nördlichen Burma nicht mehr künstlich den Hals streckt.«
Einer der wenigen Männer im Publikum wollte wissen, wie seine Geschlechtsgenossen zu dieser Prozedur standen. Die Antwort hörte sich für Wexford wie Beweismaterial in Anekdotenform an. Anschließend diskutierte man die Frage nach einem Namen für den neuen Verein und einigte sich auf Kingsmarkham Association Against Mutilation, kurz KAAM genannt. Jetzt war es Zeit für einen Imbiss. Es gab Rotwein und Weißwein, was die Somalis, die hauptsächlich Moslems waren, beides ablehnten, sowie Orangensaft und Mineralwasser. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte Wexford angenommen, alle diese Frauen sprächen einigermaßen gut Englisch, wenn er denn überhaupt einen Gedanken daran verschwendet hatte. Umso überraschter war er, als ihm seine Nachbarin Iman Dirir eine Frau vorstellte, die sie »die Dolmetscherin« nannte.
»Wir haben auf Somali oder auf Englisch keine Ausdrücke für diese Körperteile«, erklärte sie ihm mit einem traurigen Lächeln. »Die Menschen brauchten jemanden, der ihnen die britischen Gesetze erklärte. Die meisten Neuankömmlinge aus Afrika wissen gar nicht, dass es ein solches Gesetz gibt. Sie wissen nicht, dass Beschneidung verboten ist.«
Die Dolmetscherin war eine hochgewachsene stattliche Frau und trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch eine hinreißende Schönheit von jener Art, die man meistens mit den Indianern Nordamerikas verbindet: markante Adlernase, ausgeprägte Backenknochen, langer Hals und lange Hände. Doch als er sich erneut umschaute und sämtliche anwesenden Frauen genauer musterte, sah er, dass sie alle ausnahmslos gut oder sogar außerordentlich schön aussahen. Zu diesem Aussehen passten ihre eleganten Bewegungen und, bei den Älteren, ihr würdevolles Auftreten. Er seufzte innerlich, denn manchmal hatte er den Eindruck, dass bereits der Anblick von Schönheit im Menschen
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