Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
handelte. Immer wieder sah man zwischen dem schwarzen Schattenriss der Bäume die tief stehende Sonne auffunkeln. In einem der Bäume sang eine Amsel süß wie eine Nachtigall. Einen Augenblick lang schien nicht einmal das Laub mehr zu fallen, so windstill war es, doch dann schwebte ein einsames Kastanienblatt wie ein Fächer sachte an Burdens Gesicht vorbei in die Tiefe.
Es war tatsächlich Tredown. Inzwischen konnte man ihn klar sehen. Wexford erkannte den Schriftsteller von einem Foto auf einem Buchumschlag wieder. Tredown hatte die breite Rasenfläche überquert und setzte sich am Rand eines Gebüschs, in dem zwischen verblassenden Grüntönen Ebereschen und Hartriegel rötlich schimmerten, auf eine Holzbank. Diesen Teil hatte man weitgehend sich selbst überlassen, nichts war gestutzt, nichts extra gepflanzt worden. Man hatte lediglich das Gras gepflegt und kurz heruntergemäht. Immer längere Schatten legten sich über den Rasen, darunter auch die Schatten der beiden Polizisten, die Tredown nicht entgangen waren, denn er drehte sich um und sah ihnen zu, wie sie näher kamen. Er wirkte nicht überrascht, sondern lächelte.
Ohne zu fragen, wer sie denn seien – konnte er das bereits vom bloßen Anschauen erkennen? –, sagte er in einer der angenehmsten Stimmen, die Wexford je gehört hatte: »Sie sehen mich wie den Herrgott in der Kühle des Tages im Garten lustwandeln.«
Er rauchte eine Pfeife. Schon lange hatte Wexford niemanden mehr erlebt, der diesem Genuss frönte. Es roch stechend scharf. Das war kein Tabak, sondern irgendein Kraut, ein Küchenkraut .
Er stellte sich und Burden vor. Tredown stand zwar nicht auf, aber er schüttelte ihnen die Hand, was Wexford unter diesen Umständen etwas missfiel. Es war peinlich, jemanden vielleicht schon bald verhaften und auf seine Rechte hinweisen zu müssen, mit dem man freundlichen Umgang gepflegt hatte. »Meine Herren, was kann ich für Sie tun?«
»Könnten wir uns vielleicht setzen?«
»Selbstverständlich.« Tredown machte auf der Bank Platz. »Wie nachlässig von mir. Hoffentlich stört es Sie nicht, wennich rauche.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Wexford. »Trotzdem wüssteich gern, was das ist. Es riecht wie Salbei.«
»Das ist es auch. Salvia divinorum , ein starkes Halluzinogen.« Tredowns Blicke wanderten zwischen ihnen hin und her. Vielleicht erwartete er eine Reaktion, begegnete aber nur ausdruckslosen Mienen. »Das ist heute meine zweite Pfeife. Meinen körperlosen Schwebezustand hatte ich bereits heute Morgen erreicht. Diese Pfeife erweitert mein Bewusstsein und bringt mich zum Schwitzen, aber das wäre es dann auch schon.«
»Ihren körperlosen Schwebezustand?« Wexford zog die Augenbrauen hoch.
»Aber ja. Überrascht Sie das? Salbei vermittelt Transzendenz, um nicht zu sagen höchst interessante Halluzinationen.«
Owen Tredown überragte sogar Wexford und war um Einiges dünner, ja fast ausgemergelt. Jetzt fiel es Wexford wieder ein: Dieser Mann hatte Krebs. Seine Haut war grünlich-gelb verfärbt. Er hatte ein eingefallenes Gesicht mit hohen Brauenbögen, kurzer Nase, markantem Kinn und einem Mund wie ein Strich. Seine Haare, die ihm quer über die bleiche Stirn fielen, wuchsen zwar immer noch üppig, aber die ehemals flachsblonde Farbe war einem strähnigen Graubraun gewichen. Den Rest hatte er hinter die Ohren zurückgestrichen. Tredown trug eine khakifarbene Cargohose und dazu ein Jeanshemd mit offenem Kragen. An jedem Mittelfinger seiner langen knochigen Hände glänzte ein schlichter Goldring. Einer für jede Ehefrau? Wexford grübelte kurz darüber nach, dann meinte er:
»Mr. Tredown, wir haben hier bisher mit allen Leuten aus der unmittelbaren Nachbarschaft gesprochen, nur mit Ihnen nicht. Jetzt wollen wir das Versäumte nachholen.«
»Ich bezweifle, dass ich Ihnen viel erzählen kann.« Er klang wie einer, der eben aus einem Traum erwacht. Seine Bemerkung schien mehr an die Pfeife gerichtet, die er inzwischen am ausgestreckten Arm von sich hielt, als an die beiden Polizisten. »Ich kann mich nicht erinnern, mit dem älteren Mr. Grimble je ein Wort gewechselt zu haben. Natürlich waren wir über die Baupläne des jüngeren Mr. Grimble für vier Häuser in unserer unmittelbaren Nachbarschaft alles andere als glücklich. Wie Sie sehen«, sagte er zu der Pfeife, »sind unsere Wohnräume derzeit völlig uneinsehbar. Aber das haben Ihnen vermutlich bereits meine Frau und Miss Ricardo erzählt.«
So also ging er mit dem Problem der
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