Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
und gab mir einen Kuss. Und einen Augenblick lang war er mein Papa. Die Hand fühlte sich genauso an, und es waren die gleichen trockenen, kräftigen Lippen. Damit besserte sich also unsere Lage, jedenfalls für Vivien und mich. Mama war ganz schmal geworden und hatte immer einen traurigen Gesichtsausdruck. Eines Abends – Großpapa war schon schlafen gegangen, und Vivien machte in unserem gemeinsamen Zimmer Hausaufgaben – sagte Mama nüchtern: »Am liebsten würde ich sterben.« Sicher hätte sie das zu einer Sechzehnjährigen nicht sagen sollen, aber sie hatte wohl das Bedürfnis, es irgendwo loszuwerden. Wahrscheinlich wollte sie mit diesem »am liebsten« die Wucht ein wenig abmildern. »Vier Jahre lebe ich nun schon ohne ihn«, sagte sie, »aber es ist nicht besser geworden. Mitten in einer Menschenmenge sehe ich ihn und bin mir einen Moment lang sicher, dass er es ist, obwohl es natürlich nicht wahr ist. Gestern stand ich in der U-Bahn-Station und habe ihn die Rolltreppe herunterkommen sehen. Ich entdecke ihn auf Zeitungsfotos und in Menschenansammlungen im Fernsehen. Ich möchte sterben, damit das aufhört.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Im Gegensatz zu ihr musste ich weinen. Sie saß nur da und starrte mit leerem Blick durchs Zimmer. »Es hat mir nicht viel ausgemacht, dass ich das Auto verkaufen und Veras Gegenwart ertragen musste, und auch nicht, dass ich mir einen Job suchen musste. Und so weiter. Im Vergleich zu der Tatsache, dass ich ihn verloren habe, war das alles nichts.«
Daraufhin wollte ich wissen, ob es für sie leichter wäre, wenn wir wüssten, was Papa zugestoßen sei, aber sie meinte nur, sie glaube, nein. Sie habe immer gewusst, dass er tot sei. Gerne hätte ich sie gefragt, wie er ihrer Meinung nach gestorben sein könnte, ich meine, was die Todesursache gewesen sei; aber ich wagte nicht, etwas zu sagen, was ihr vielleicht noch mehr Schmerzen bereiten konnte. Vivien und ich hatten unsere eigenen Ideen, was ihm vielleicht zugestoßen war. Vivien neigte zu der Theorie, er sei ertrunken, weil Lewes in der Nähe der Südküste liegt. Sie stellte sich vor, er sei nach Brighton oder an sonst einen Ort da unten gefahren, wo die Kreideklippen stehen, und sei ins Meer gestürzt. In Anbetracht der Tatsache, dass es an jenem Tag wie aus Eimern geschüttet hatte, konnte ich mir keinen Grund denken, warum jemand freiwillig ans Meer fahren würde. Ich stellte mir vor, Papa habe nach der Beerdigung auf dem Weg zum Bahnhof an einem einsamen Platz einen Herzinfarkt bekommen. Wenn er in einem Wald gestorben wäre, würde man seine Leiche vielleicht nie finden.
Wir schmiedeten Pläne für eine Fahrt nach Lewes. Wir würden zum Haus von Carol Davidson gehen und die Route nachvollziehen, die Papa auf dem Weg zum Bahnhof genommen haben musste. Dazu kam es nie. Das Ganze war mehr ein Hirngespinst als ein Plan, den man in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Außerdem war die Situation für uns anders als für Mama. Ich stand vor dem Abitur und Vivien vor dem Abschluss der Sekundarstufe. Ich hatte einen Freund. Vivien war in der Schultennismannschaft und spielte Geige im Orchester. Allmählich war unser Leben restlos mit Hobbys ausgefüllt. Wir beide lernten viel für die Schule, vielleicht mehr, als wenn Papa noch bei uns gewesen wäre. Eines Tages würden wir unbedingt gute Jobs brauchen, das war uns klar, und vorher mussten wir noch studieren.
Auch uns begleitete ständig ein Gefühl des Verlusts, das manchmal sehr wehtat, aber das war nichts im Vergleich zu Mamas Leid. Mit Papas Fortgehen verschwand alles aus ihrem Leben, was ihr je etwas bedeutet hatte. Nun, sie hatte uns, was ihr vermutlich guttat, aber ein echter Trost war es nicht. Die ganze Zeit liege ein tiefes Gefühl der Einsamkeit wie ein Schatten über ihr, sagte sie. Als sie krank wurde, war ich achtzehn und im ersten Jahr auf der Universität in York. Mir fiel auf, wie dünn sie geworden war, obwohl sie sich noch mehr Gewichtsverlust eigentlich nicht leisten konnte. Als ich in den Semesterferien heimkam, riet ich ihr zu einem Besuch bei ihrem Hausarzt. So abzumagern, sei nicht normal. Aber sie meinte, bis auf leichte Kreuzschmerzen gehe es ihr gut. Im Oktober fuhr ich wieder nach York, aber schon im nächsten Monat trieb mich ein panischer Anruf von Vivien übers Wochenende wieder nach Hause. Man hatte bei Mama Brustkrebs festgestellt, der sich bereits im Rückenmark ausgebreitet hatte.
Entgegen meinem Vorschlag war sie nicht zum
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