Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
hatte einer dieser Leute auf dem Gewissen, und als Motiv kam vermutlich nur Habgier oder Feigheit in Frage.
Wenn es denn Hexham wäre.
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»Soll ich meinen Anwalt hinzuziehen?«
Wexford war überrascht. Woher wusste sie, dass man einen benötigte? Doch dann fielen ihm wieder die vielen Gerichts- und Polizeiserien im Fernsehen ein, die sich Menschen anschauten, die ans Haus gefesselt waren. Stumm schüttelte er den Kopf. »Noch nicht«, hätte er beinahe gesagt. Würde er sie eines schönen Tages verhaften müssen?
An diesem Sonntagvormittag wirkte sie unverändert mitleiderregend. Als er sie am Abend zuvor verlassen hatte, war sie nicht allein gewesen. Er hatte darauf bestanden, dass sie jemanden zu sich holte, ehe er ging. Sie hatte ihre Putzfrau angerufen, die sich bereit erklärte zu kommen. Er fand es schrecklich, dass sie keine andere Gesellschaft auftreiben konnte als eine Frau, die nicht sonderlich viel Sympathie für sie empfand und die sie obendrein bezahlen musste. Selbstverständlich hätte sie ihrer Putzfrau nie gesagt, warum sie sie bei sich haben wollte. Sie meinte nur, sie fühle sich nicht wohl und sei unruhig, weil sie allein sei.
Sie lehnte auf ihrem wulstigen Plüschsofa und hatte die geschwollenen Beine auf ein Kissen gelegt. Ihr Gesicht war mit einer weißen Puderschicht überkrustet. Da die Heizkörper unsinnigerweise förmlich glühten, obwohl anscheinend niemand Wert darauf legte, fächelte sie sich mit einer Werbebeilage aus einer Zeitung Luft zu. Er wurde das hilflos-zornige Gefühl nicht los, dass man für Leute ihres Schlags etwas tun müsste, ihnen helfen und ihr Los erleichtern müsste, auch wenn er nicht gewusst hätte, wie. Sie war weder arm noch bedürftig. Sie erinnerte an die Frau aus dem Gedicht: »Sag, warum gehst du mit Handschuhen durchs Feld … Sag, dicke Madam, die keiner liebt auf der Welt.« Gewiss, sie war selbst daran schuld, dass niemand sie liebte, aber dafür war es jetzt zu spät.
»Haben Sie eine Ahnung, wer dieser Mann gewesen ist?«, fragte er sie.
»Natürlich nicht.« Ihre Antwort kam viel zu schnell. »Solche Leute kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn vorher noch nie gesehen hatte.«
»Mrs. McNeil, im Haus lagen Kleidungsstücke herum«, hob er an, »in der Küche. Sie haben ihm gehört.«
»Wie gesagt, ich habe ihn durchs Fenster gesehen, und da hat er dieses orange Zeug getragen. Danach habe ich ihn erst wieder als Toten gesehen.«
Nachdem Ihr Mann ihn erschossen hatte , korrigierte Wexford sie insgeheim. Dieser Mensch war am helllichten Tag mit einem Gewehr über die Straße spaziert. Aber warum nicht? Wer hätte dazu etwas sagen wollen? Wer hätte sich aufgeregt, wenn er Schüsse gehört hätte? Hier draußen wurde das ganze Jahr über Jagd auf Kaninchen und Tauben gemacht. Eine Schonzeit gab es nicht.
»Und außerdem hing noch im Schlafzimmer ein ganzer Schrank voller Kleidung«, ergänzte sie. »Alles vom alten Mr. Grimble. Der Sohn hat es nie weggebracht, sondern einfach dort hängen lassen. Heutzutage fehlt den Leuten jeder Respekt. Ich bin froh, dass ich keine Kinder hatte.«
Er verkniff sich die Bemerkung, dass diese andernfalls bereits auf die sechzig zugehen würden. »Haben Sie die Kleidungsstücke auf der Küchenanrichte gesehen?«
»Sie haben ihm gehört, diesem Mann, der auf Ronald mit dem Messer losgegangen ist. Er hat sie ausgezogen, als er ins Bad ging.«
»Mrs. McNeil, ich möchte, dass Sie jetzt genau überlegen, bevor Sie antworten. Haben Sie und Ihr Mann aus den Kleidungsstücken etwas an sich genommen, nachdem der Mann … tot war?«
Statt genau zu überlegen, antwortete sie sofort.
»Was denn?«
Dinge, die er mit Sicherheit bei sich hatte , dachte Wexford , Dinge, die jeder hat, und wenn er noch so arm ist. »Kleingeld, Führerschein, Schlüssel?«
In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verachtung und Ungeduld. Diese Miene kannte Wexford nur zu gut. Darin drückte sich die Geringschätzung für eine Sorte Mensch aus, von denen Mrs. McNeils Eltern behauptet hätten, sie würden die Badewanne als Kohlenlager missbrauchen, während sie selbst gesagt hätte, heutzutage täten sie das nur nicht mehr, weil sie in Sozialwohnungen mit Zentralheizung säßen.
»Leute von der Sorte haben so etwas nicht«, behauptete sie.
»Leute von welcher Sorte, Mrs. McNeil?«
»Leute aus der Arbeiterschaft, auch wenn sie nicht sonderlich viel arbeiten.«
Wexford musste sich sehr bemühen, dass ihm das mitleidige
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