Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Gefühl, das er für sie empfand, nicht abhandenkam. »Nicht einmal einen Schlüssel?«
Zögernd blickte sie wie auf der Suche nach einem Fluchtweg nach rechts und links. »Mein Mann hat die Kleidungsstücke durchsucht.« Sie hielt mit verkniffenen Lippen inne und meinte dann gewissenhaft: »Da war ein bisschen Geld.«
Ihre Augen hatten einen neuen Ausdruck angenommen, den Wexford bisher noch nicht gesehen hatte. Selbstgerechtigkeit? Diesen Blick hatten weder Mord oder zumindest Totschlag noch das Verstecken einer Leiche und das unerlaubte Betreten eines fremden Grundstücks hervorrufen können, aber wenn es um Eigentum, Besitz und Geld ging, war das etwas ganz anderes. Das schlimmste Verbrechen war, wenn man selbst diese Dinge verlor beziehungsweise andere darum brachte.
»Wo lag es?«
»In der Hosentasche. In so einem blauen Zeug, das alle tragen.«
»Wie viel Geld, Mrs. McNeil?«
»Ziemlich viel. Ich weiß es nicht, ich habe es nicht gezählt.« Sie wirkte empört. »Unterstellen Sie etwa, wir hätten es gestohlen? Wie können Sie es wagen! Diebstahl ist eine Sünde .«
»Mrs. McNeil, ich weiß ganz genau, dass Sie das nicht getan haben.«
»Was wollen Sie dann noch? Ich habe Ihnen erzählt, dass der Mann tot war. Mein Mann hat ihn aus Notwehr erschossen.«
Aus welcher Entfernung? Drei Meter? Vier Meter?
Die Putzfrau kam und bot an, für Irene McNeil ein Mittagessen herzurichten und den ganzen Nachmittag bei ihr zu bleiben. Mrs. McNeil hatte niemanden. Ihre Freundinnen mussten inzwischen tot sein, falls sie je welche gehabt hatte. Trotzdem war Wexfords Mitgefühl wie weggeblasen. Laut Maeve Tredown und der deutlich zuverlässigeren Aussage der Putzfrau war Irene McNeil vierundachtzig. Würde er es übers Herz bringen, gegen eine Frau ihres Alters in irgendeinem Punkt Anklage zu erheben? Vielleicht war er dazu gezwungen. Wieder befragte er sie nach dem Schusswechsel und dem Messer.
»Ich war nicht dabei.« Bald würde sie nur noch wimmern. »Ich habe es nicht gesehen. Ronald hat gesagt, er sei mit dem Messer auf ihn losgegangen, und Ronald hätte nie gelogen.«
»Haben Sie das Messer gesehen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube schon, ich erinnere mich nicht.Es war ein Schock, als Ronald zurückkam und sagte, er habe einen Mann getötet. Auch wenn es aus Notwehr geschah. Ich war verstört, ich habe ihn nicht sehr viel gefragt.«
»Mrs. McNeil, wollen Sie damit sagen, dass dieser Mann, der seine Kleidung in der Küche liegen gelassen hatte, ein Messer mitnahm, als er, nur mit der Unterwäsche bekleidet, ins Bad ging?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Mein Mann hat gesagt, es sei so gewesen. Ronald hat nie gelogen.«
»Dann müsste das Messer ja noch dort liegen, oder? Der Mann hätte es fallen lassen, also läge es immer noch im Bad.«
»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich bin so müde.« Sie fing zu weinen an. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Die Putzfrau machte den Eindruck, als wäre mit ihr nicht zu spaßen. Sie rief: »Sie haben sie ganz schön aufgeregt. Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden.«
Dora, Sheila und die kleinen Mädchen hatten schon zu Mittag gegessen. Paul wollte Sheila am späteren Nachmittag abholen. Wexford aß, was sie ihm übrig gelassen hatten: kaltes Huhn mit Salat – nicht gerade sein Lieblingsessen. Da ihm nur die Wahl zwischen Mineralwasser und Cranberrysaft blieb, trank er nichts und lauschte stattdessen dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter über Sheilas bevorstehende Hochzeit. In ihrer großen Erleichterung darüber, dass Sheila endlich heiraten würde, erhob Dora keinerlei Einwände gegen die Zeremonie, die am Strand einer Insel vor der schottischen Westküste geplant war. Nur der Vorschlag, Amulet und Anoushka als Brautjungfern zu nehmen, rief bei ihr Protest hervor. Wexford überlegte, dass er das Fest vermutlich in vollen Zügen genießen würde, da man von ihm nicht einmal die Bezahlung der Rechnung erwartete, ganz im Gegensatz zur ersten Trauung in St. Peter, in Kingsmarkham.
Sie hatten ihm neben seinen Teller einen an ihn adressierten Umschlag gelegt. Als er das Hühnchen verspeist und genug Salat gegessen hatte, um seine Frau milde zu stimmen, öffnete er ihn. In Gedanken zitierte er Wexfords Siebtes Erfahrungsgesetz: Im Gegensatz zu Männern essen Frauen gerne kalt und lieben Rohkost. Er entfaltete die beiden Zeitungsausschnitte, von denen einer das heutige Datum trug, und las. Bevor er den zweiten Artikel in Angriff nahm,
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