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Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Hausarzt gegangen. Als sie es wegen der starken Schmerzen schließlich doch tat, hatte man sofort mit Chemotherapie begonnen. Im Krankenhaus sagte man mir, dass es zu spät sei. Jetzt könne man sie nur noch palliativ versorgen, um die Schmerzen zu lindern. Sie war so dünn, dass ihr die Ringe vom Finger fielen. Mit dem Lächeln eines Totenschädels gab sie mir ihren Ehering und den Verlobungsring und bat mich, sie aufzuheben, einen für mich und einen für Vivien, falls wir sie eines Tages tragen möchten. Sie wusste, dass es für sie keine Hoffnung mehr gab. »Papas Ehering sah genauso aus wie meiner«, sagte sie, »mit der gleichen Gravur auf der Innenseite.«
    Ich sagte nichts. Ich saß nur da und hielt ihre unberingte Hand.
    »Ich denke dauernd an ihn«, sagte sie. »Wenn ich doch nur glauben könnte, dass wir uns wiedersehen werden, aber das tu ich nicht, wirklich nicht.«
    Zu Hause las ich die Inschrift in dem Ehering. Es war ein mit Blättern ziselierter Ring aus Gold. »Für immer« stand darin. Nun, es war ja auch für immer, so wie sie es eben vermocht hatten. Mama starb im darauffolgenden Jahr, Mitte Januar. Ich fuhr so oft wie möglich heim, während Vivien in ihren letzten Lebensmonaten immer bei ihr war und sie täglich besuchte. »Sie hat genau gewusst, was ihr fehlte«, sagte Vivien zu mir. »Das weiß ich, obwohl sie es nie gesagt hat. Ungefähr vor einem Jahr hatte sie einen Knoten in der linken Brust entdeckt, hat aber nichts dagegen unternommen. Zum Arzt ist sie erst gegangen, als ihre Kreuzschmerzen unerträglich wurden.«
    Ich wollte von ihr wissen, wovor Mama Angst gehabt hatte.
    »Vor gar nichts«, meinte sie. »Sie fürchtete sich nur davor, weiterleben zu müssen. Sie unternahm nichts gegen den Knoten, weil sie unbedingt sterben wollte. Selbstmord kam für sie nicht in Frage, aber sie wusste, diese Krankheit würde sie töten, und genau das wollte sie.«
    Und so lebten wir dort allein weiter, zusammen mit Großpapa, der seine Frau und seinen einzigen Sohn verloren hatte. Auch er starb ein paar Jahre später, aber mit zweiundachtzig ist der Tod keine Tragödie, nicht wie mit vierundvierzig und mit neunundvierzig. Trotzdem hatten wir mit ihm wieder einen Menschen verloren, den wir vermissten. Großpapa hatte uns sein ganzes Hab und Gut vermacht. Es genügte, um die Hypothek abzubezahlen, und danach blieb für jede von uns immer noch einiges übrig. Weil Vivien mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollte, habe ich sie ausbezahlt, und jetzt lebe ich allein im Haus. Trotzdem möchte ich es nicht verkaufen. Ich bin nicht wie Mama, ich glaube nicht, dass Papa tot ist. Eines Tages wird er wiederkommen, und dann werde ich ihn hier erwarten, mit allem, was einmal ihm gehört hat: dem Ehering, den er Mama an den Finger gesteckt hat, und jenem Stück Papier mit seiner Handschrift. Mit allem, was mir von ihm geblieben ist.
    Selina Hexhams Erinnerungen an ihren Vater, Spurlos verschwunden: Der verlorene Vater, erscheinen im Januar 2007 bei Lawrence Busoni Hill.
    Barry steckte die Zeitungsausschnitte aus den beiden letzten Sonntagsausgaben in einen Umschlag und fuhr damit nach Kingsmarkham hinüber. Für den Fall, dass Wexford nicht da wäre, hatte er ein Begleitschreiben beigefügt, in dem lediglich stand, dass die Ausschnitte aus der Sunday Times von ihm stammten. Wexford würde Bescheid wissen. Seine Tochter Sheila öffnete mit einem Baby im Arm. Barry war für sie ein Unbekannter, während er sie wie jeder Fernsehzuschauer und Zeitungsleser selbstverständlich kannte. Ihr Gesicht war allen vertraut. Sie meinte, ihr Vater sei nicht da, sie wisse auch nicht, wo er sei, aber vielleicht möchte Barry hereinkommen. Sie säßen gerade beim Kaffee.
    Barry lehnte dankend ab und meinte, das sei sehr freundlich von ihr. Angenommen, dieser Hexham wäre die Leiche aus dem Graben, und er hätte es herausgefunden – das wäre doch etwas. Mit diesem Gedanken fuhr er nach Stowerton zurück. Er war genauso zornig, wie es vielleicht auch Wexford sein würde. Irgendjemand hatte diesen Mann umgebracht und seine Leiche wie ein verendetes Stück Vieh in einen Graben geworfen. Vielleicht gehörte er zu den Leuten, die Barry befragt hatte, vielleicht auch nicht. Er dachte an die Mädchen, an deren Mutter, an die Eltern des Toten. Sie mussten nicht nur um einen geliebten Menschen trauern, sondern auch noch wirtschaftliche Entbehrungen ertragen, wie sie bei unvermittelten Todesfällen immer auftreten. Das alles

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