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Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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wir je wagen, ist die gegenseitige Frage von jungen Mädchen: ›Hat man dich geschnitten?‹«
    Wexford sah das Mädchen zittern. Es war nur eine ganz leichte Bewegung, weniger als ein Schauer. Die andere Frau fuhr fort: »Man sagt, man würde nur dann zur Frau, wenn man das hinter sich hat. Es handelt sich um ein … um ein … wie heißt das Wort? … um ein Statussymbol.«
    »Ja, ich verstehe«, warf Dora rasch ein, stand auf und zog die Vorhänge zu, als wollte sie etwaige Bedrohungen ausschließen.
    »Sie wissen, dass mein Mann und ich unsere Töchter hierhergebracht haben, um sie davor zu bewahren«, sagte Iman Dirir zu Wexford. Mit einer eleganten Bewegung deutete sie auf das Mächen. »Matea wurde es nicht erspart. Sie hat es erlebt. Man hat sie noch als ganz kleines Mädchen beschnitten.«
    Das Mädchen errötete. Die Erinnerung schmerzte. »Drei Jahre war ich alt.«
    »Mr. Wexford, es fällt ihr schwer, darüber zu sprechen. Außer mit mir und ein paar anderen Frauen, die … die dagegen sind, hat sie noch nie darüber gesprochen.«
    »Ich weiß«, erwiderte er, »oder, besser gesagt, ich kann es mir vorstellen.« Er hörte, wie Dora neben ihm leise gequält aufstöhnte.
    »Sie hat mir erzählt, für sie wäre es nicht so schlimm gewesen wie für einige andere«, berichtete Mrs. Dirir. »Sie hatte nicht viele Probleme. Nicht wie viele andere, die Zysten und Fisteln haben und nicht … schon gut, Matea, ich sage nichts mehr.«
    »Was ist mit den Männern?«, wollte Dora wissen. »Wie denken sie darüber? Ich meine, die Ehemänner und Väter.«
    »Sie sagen, das sei Frauensache. Da dürften sie sich nicht einmischen, auch wenn einige es für gut halten, weil es die Frauen … weil es sie ›rein‹ hält. ›Rein‹, wäre das der richtige Ausdruck?«
    »Rein, keusch, etwas in der Richtung«, sagte Wexford.
    »Es heißt, eine beschnittene Frau würde nie untreu werden.« Plötzlich lief Iman Dirir knallrot an. »Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Beschnittene Frauen genießen nicht, was Männer und Frauen zusammen tun … Können Sie verstehen, was ich meine?«
    »Natürlich«, sagte Wexford. »Selbstverständlich können wir das.«
    Iman Dirir hielt inne. Langsam nahm ihr Gesicht wieder seinen Milchkaffeeton an. »Matea ist nicht wegen sich selbst zu Ihnen gekommen. Für sie ist es zu spät. Es geht um ihre Schwester. Deshalb ist sie da.«
    Mateas Englisch war besser. Sie sprach zwar immer noch mit starkem Akzent, aber deutlich flüssiger. »Es ist für meine Schwester Shamis. Sie ist fünf, aber noch nicht in der Schule. Meine Eltern machen bald Ferien in unserer somalischen Heimat. Meinen Bruder Adel und meine Schwester nehmen sie mit.«
    Wexford beschloss, ihr zu helfen. »Befürchten Sie, dass Ihre Eltern Ihre Schwester während des Aufenthalts in Somalia beschneiden lassen wollen?«
    »Ich weiß es«, entgegnete Matea.
    »Das ist ein Gesetzesverstoß«, sagte er, obwohl er wusste,dass diese Bemerkung sinnlos war. Seit vier Jahren galt es als Verbrechen, das mit bis zu vierzehn Jahren Gefängnis bestraft wurde, wenn man ein weibliches Wesen außer Landes schaffte, um seine Genitalien verstümmeln zu lassen. Zu Gerichtsverfahren war es bisher trotzdem nicht gekommen. Den Grund dafür hatte Mrs. Dirir bereits umrissen. Die Leute breiteten einen Mantel des Schweigens über dieses Thema. Niemand würde den Behörden einen Gesetzesverstoß »verraten«, keiner würde zur Polizei oder zum Arzt gehen. »Sie sollten Ihre Eltern über das Strafmaß aufklären – ich meine, sie könnten für lange Zeit ins Gefängnis kommen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Mrs. Dirir hat es getan. Wir machen nur Ferien, sagen sie. Immer wieder sagen sie es.«
    »Ich werde jemanden schicken, der mit ihnen redet«, erklärte er und dachte dabei an Karen Malahyde, die Kinderschutzbeauftragte. »Ich werde mein Bestes tun.«
    »Vielen Dank«, sagte Matea, in deren Augen plötzlich Hoffnung aufkeimte.
    In jener Nacht schlief er schlecht. Immer wieder sah er im Traum und im halbwachen Zustand ein fünfjähriges Mädchen im Kreis von Frauen vor sich, die zusahen, wie man es mit gespreizten Beinen und wild rudernden Armen auf den Boden presste, während eine andere Frau mit einem scharfen Stein sein Fleisch zerschnitt. Er würde sein Bestes tun. Würde es genügen, um eine Gräueltat an einem hilflosen Kind zu verhüten, das noch nicht einmal in die Grundschule ging?

16
    _____
    Vielleicht war alles nur eine Erfindung von Selina

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