Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
vertauschte er seinen Sitzplatz mit einem Sessel. Sheila kam herüber und setzte sich, mit Anoushka auf den Knien, neben ihn.
»Paps, bist du müde? Du siehst ein bisschen schläfrig aus.«
»Schon möglich.« In letzter Zeit hatte er reichlich Erfahrung mit der Interpretation von Gesichtsausdrücken gewonnen. »Du willst etwas, das sehe ich. Was denn?«
»Während du weg warst, kam Mrs. Dirir vorbei und wollte mich sprechen. Sie wusste, dass ich da bin. Mami hatte es ihr gesagt. Sie wollte wissen, ob sie dich heute Abend sprechen könnte. Sie möchte dir unbedingt jemanden vorstellen – ein Mädchen.«
Er stöhnte leise. »Sheila, es ist Sonntag.« Aber sogar in seinen Ohren klang eine solche Klage absurd. Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Bei ihrer Generation und bei allen Jüngeren zog das nicht mehr als gewichtige Entschuldigung. Der Sonntag war kein Ruhetag mehr, an dem die Geschäfte geschlossen waren und es kein Freizeitvergnügen gab. Heutzutage blieben die Leute sonntags nicht mehr still und friedlich zu Hause.
»Paps, ich glaube, es ist wichtig. Es hat etwas mit Genitalverstümmelung zu tun.«
»Wann kommt sie denn?«
Sie lächelte. Er hatte eingelenkt, sie wusste es.
»Gegen neunzehn Uhr, hat sie gemeint.«
Nachdem Paul gekommen war, um sie mit seinen kleinen Töchtern abzuholen, las Wexford zum zweiten Mal die Zeitungsausschnitte, die ihm Barry Vine geschickt hatte. Möglich wäre es , dachte er. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Die Daten stimmten: Hexham war am Donnerstag, 15. Juni 1995, verschwunden, zwei Tage, bevor man den Graben auf Grimble’s Field endgültig verfüllt hatte. Der Mann hatte das richtige Alter. Zwischen vierzig und fünfzig hatte Carina Laxton gemeint, und Alan Hexham war vierundvierzig gewesen. Im Laufe der bisherigen Ermittlungen hatte sich abgezeichnet, dass der erste der nicht identifizierten Männer hier zu Besuch gewesen sein musste. Auch wenn in diesem Buch kein Hinweis darauf stand, dass Hexham je in der Nähe von Kingsmarkham gewesen war, beziehungsweise dass er Flagford besucht hatte, so sprach auch nichts dagegen oder schloss es von vornherein aus. Bis vierzehn Uhr hatte er sich in Lewes aufgehalten, und danach schien er wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Er hätte genauso gut mit dem Zug nach Kingsmarkham fahren können, anstatt nach Brighton, oder auch zurück nach London und dort einen Zug oder einen Bus mit anderem Ziel nehmen können.
Selbstverständlich musste man in diese Richtung ermitteln. Man musste die junge Frau befragen, diese Selina Hexham, und zwar er höchstpersönlich. Eines stand fest: Diese Sache konnte man nicht einfach auf Eis legen. Bei diesem Vergleich fragte er sich, ob das heute wohl noch jemand machte. Gab es noch Firmen, die Eisblöcke herstellten und lieferten? Jetzt, da in jedem Haushalt elektrische Kühlschränke standen? Vermutlich nicht. Aber noch während er über diese Frage nachgrübelte, schlief er ein.
Das Mädchen, das in Begleitung von Iman Dirir kam, war Matea. Deshalb hatte sie also bei seinem letzten gemeinsamen Besuch mit Burden im indischen Lokal mit ihm sprechen wollen. Deshalb hatte sie an Halloween bei ihm geläutet.
Sie trug eine Kleidung, die im Westen ebenso verbreitet war wie im Orient: eine weite Baumwollhose und darüber eine bestickte und mit Pailletten verzierte Tunika mit langen Ärmeln, die in London genauso modern war wie in Amman oder in Mogadischu. In Wexfords Augen glich sie einem Mädchen aus den Gedichten von Omar Khayyam, neben dem jeder Mann gerne in der Wildnis bei einem Laib Brot und einem Becher Wein sitzen würde. Ihre langen schwarzen Haare strömten wie ein Fluss über ihren Rücken. Sie saßen vor einem Kaminfeuer, das Dora eben erst in dem Glauben angezündet hatte, Einwanderer aus warmen Gefilden müssten in ihrer Wahlheimat ständig frieren.
Draußen war alles von einer dichten Laubschicht bedeckt. In dem Licht, das durch die Terrassentüren auf den Rasen fiel, zeichnete sich kein Quadratzentimeter grünes Gras ab. Nichts regte sich, nur ein Eichhörnchen durchstöberte systematisch den gelben Teppich. Der Wind war eingeschlafen. Matea saß mit ihren im Schoß gefalteten Händen unbewegt da wie die Luft. Leise sagte Mrs. Dirir, die Matea so ähnlich sah, dass sie ihre Mutter hätte sein können, zu Wexford: »In unserer Gesellschaft werden wir dazu erzogen, über dieses Thema nicht zu sprechen. Es wäre besser, wenn wir es täten, aber das tut niemand. Das Äußerste, was
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